Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige
in Büchern über Krankheiten, spricht nur mit seinen Quacksalbern und schluckt die Tränke, die sie zusammenbrauen. Ihm bleibt wenig Zeit für andere Leute oder die Angelegenheiten eines Königreichs.«
Der Ritter war immer ernst, aber nun lag eine Spur von Traurigkeit auf dem wettergegerbten Gesicht. Grace stockte der Atem, ihre Brust fühlte sich beengt an. Das lag natürlich an ihrem Gewand. Es schnürte sie so sehr ein, daß sie es eigentlich gar nicht tragen sollte. Selbst wenn Aryn ihr bescheinigte, daß Winterviolett ihr gut stand.
Sie wollte etwas sagen – irgend etwas –, um den Ritter aufzuheitern, aber sie brachte keinen Ton hervor. Wenn er verwundet gewesen wäre, hätte sie genau gewußt, wie sie ihm helfen mußte. Aber diese Traurigkeit …
»Lady Grace!« rief eine helle Stimme.
Grace sah einen strahlendblauen Wirbelwind auf sich zukommen. »Lady Aryn«, sagte sie und versuchte, über die Unterbrechung nicht allzu erleichtert zu klingen.
»Grace, ich bin so froh, daß ich dich gefunden habe.« Die Wangen der jungen Baronesse glühten aufgeregt.
»Guten Morgen, Euer Hoheit«, sagte Durge mit seiner rauhen, aber sanften Baritonstimme. Er machte eine steife Verbeugung. »Obwohl ich fürchte, daß er nicht mehr lange gut sein wird. Es sieht nach Regen aus.«
Aryn blinzelte, als bemerkte sie den Ritter erst jetzt, und tatsächlich hatten sein Wams und sein Umhang genau dieselbe Farbe wie die Wand. Sie machte einen hastigen Knicks. »Lord Durge.« Sie wollte sich wieder Grace zuwenden, dann sah sie aus dem Fenster. Sie runzelte verwirrt die Stirn. »Aber es ist doch kein Wölkchen am Himmel!«
Darauf erwiderte Durge nichts. Er verschränkte die Arme und sah starr geradeaus.
»Aryn, worum geht es?« fragte Grace.
Aryns blaue Augen leuchteten. »Du wirst nie erraten, wer gerade eben am Schloßtor eingetroffen ist.«
»Nein«, sagte Grace, »das werde ich wahrscheinlich wirklich nicht.«
»Dann mußt du eben mitkommen und es selbst sehen. Wenn wir vor dem Großen Saal warten, können wir sie vielleicht erwischen.« Sie schnappte sich Grace mit ihrer gesunden Hand und zog sie hinter sich her. »Ach, und Ihr auch, Durge«, fügte sie hinzu.
Der Embarraner zögerte, bevor er stumm nickte und den beiden folgte.
2
Travis wich nicht von Beltans Seite, als sie Falken, Melia und zwei stämmigen Wächtern durch das Labyrinth der Gänge von Calavere folgten. Neben dem großen Ritter fühlte er sich etwas sicherer. Aber auch nur etwas.
Die Wächter hatten sie bei ihrer Ankunft am Schloßtor begrüßt – wenn man es als Begrüßung bezeichnen konnte, von scharfen Blicken und spitzen Speeren bedroht und aufgefordert zu werden, abzusteigen und mitzukommen.
»Sieht so aus, als hätte dich jemand kommen gesehen, Falken«, hatte Beltan gesagt und die Kapuze seines grünen Umhangs tief ins Gesicht gezogen.
Falken hatte nur ein Schnauben von sich gegeben, was Travis für kein gutes Zeichen hielt. Der Barde war schon im letzten Schloß, an dessen Tor sie geklopft hatten, kein unbedingt gern gesehener Gast gewesen. Erhoffte er sich hier Besseres? Oder Schlimmeres?
Sie hielten vor einer großen Flügeltür an.
»König Boreas erwartet Euch«, sagte einer der Wächter und zeigte auf die Tür.
Melia blickte Falken erwartungsvoll an. »König Boreas ist gut auf dich zu sprechen, das sagtest du doch, oder?«
Falken richtete seinen Umhang. »Sitzt der ordentlich?«
»Noch ein bißchen nach links.« Melia funkelte ihn an. »Und glaub ja nicht, daß mir entgangen ist, daß du meine Frage nicht beantwortet hast.«
Falken grinste sie wölfisch an. »Sollen wir hineingehen und den König um Gastfreundschaft bitten?«
Melia verdrehte die Augen, sagte aber nichts.
Travis beugte sich zu Beltan herüber. »Weiß er, was er tut?«
»Nicht annähernd so oft, wie er vorgibt.«
Sie drückten gemeinsam die Tür auf.
Der Große Saal von Calavere unterschied sich nicht sonderlich von König Kels Halle, außer daß er doppelt so groß war, die Wände nicht einsturzgefährdet aussahen und nirgendwo Tiermänner zu sehen waren. Einige Tischplatten und Böcke lehnten unbenutzt an den Wänden, so daß der mit frischen Binsen bestreute Boden weitgehend leer war. Ein Podium dominierte das hintere Ende das Saals, und dieses wiederum wurde vom König von Calavan dominiert. Travis erkannte sofort, daß Kel, der wilde Herrscher von Kelcior, trotz aller Angeberei soviel Ähnlichkeit mit Boreas hatte wie ein Großbrand mit einer
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