Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige
lange nicht mehr so kalt wie noch zur Wintersonnenwende. Am Rand des Kreises scharrten die Pferde im Schnee, und ihr Zaumzeug klirrte in der frischen Luft, während sich die sieben Freunde in seiner Mitte versammelten.
Travis nahm sich einen Augenblick Zeit, jeden von ihnen der Reihe nach anzusehen. Graces Wangen waren von der Kälte gerötet, aber ihre Augen beschworen noch immer das Bild eines Sommerwaldes herauf. Aryn stand neben ihr, in einen dicken blauen Reitumhang gehüllt, ihr hübsches Gesicht so weiß wie der Schnee. Hinter den beiden stand der Ritter Durge. Eiskristalle vermengten sich mit dem Grau in seinem Haar und seinem Schnurrbart, und seine Miene war so düster wie immer. Trotz der Kälte hatte er sein Kettenhemd angezogen, und seine behandschuhten Hände ruhten auf dem Griff seines Breitschwertes vor ihm. Melia und Falken standen ein Stück daneben. Der Barde hielt seine Laute, und in den bernsteinfarbenen Augen der Lady lag ein nachdenklicher Ausdruck. Beltan stand neben ihnen. Er hatte an diesem Tag zum ersten Mal das Gemach verlassen, und Travis wußte, daß der Ritt hierher ihm Schmerzen bereitet hatte. Aber der Ritter stand aufrecht da, und der Wind blies ihm das Haar aus der Stirn. Als er Travis’ Blick bemerkte, lächelte er, und in diesem Augenblick war sein Gesicht so ansehnlich wie das eines jeden Königs.
Falkens Stiefel knirschten im Schnee, als er auf Travis zutrat. »Bist du bereit?«
Travis wollte nicken, dann schüttelte er aber den Kopf. »Kannst du einen Moment warten? Da gibt es noch etwas, das ich vorher erledigen muß.«
Falken legte den Kopf schief, dann nickte er. Travis verließ den Kreis. Er ging zwischen zwei der verwitterten Steine vorbei bis zu dem dunklen Waldrand. Er blieb vor dem dichten Unterholz stehen, griff in die Tasche und holte einen Gegenstand hervor. Er ging in die Hocke und hielt ihn den Schatten im Wald hin.
Es war die Eisenschatulle, die Jack ihm gegeben hatte.
Er lauschte dem Pfeifen des Windes, und dann hörte er es: kristallklares Glockengeläut. Die Schatten neben einem Baum gerieten in Bewegung, zwei kleine grüne Hände kamen zum Vorschein. Travis hielt ihnen die Schatulle hin. Kurze grüne Finger schlossen sich darum. Sie berührten Travis -- eine kurze, federleichte, wissende Berührung. Dann verschwanden die Hände in den Schatten und nahmen die Schatulle mit. Travis seufzte, aber er wußte, daß der Stein hier sicherer war, bewacht von dem Volk, das im Dämmerwald hauste. Er stand auf und kehrte zu dem Steinkreis und seinen Freunden zurück. Falken nickte ihm zustimmend zu.
»Also dann«, sagte Travis. »Ich bin bereit.«
Grace schüttelte ihm die Hand. »Weißt du noch, was ich dir gesagt habe?«
Travis nickte und lächelte sie an, und sie trat zurück. Er atmete tief durch, dann warf er einen letzten Blick in die Runde.
»Nun«, sagte er. »Lebt wohl.«
Diese Worte waren so wenig angemessen, aber die leuchtenden Augen der anderen verrieten ihm, daß sie verstanden.
»Paß auf dich auf, mein Bester«, sagte Melia.
Es war soweit. Travis griff in die Tasche seines Wamses und zog die halbierte Silbermünze hervor, die Bruder Cy ihm gegeben hatte. Er hob die Münze in die Luft, dann verharrte er. Beltan trat mit ein paar langsamen Schritten auf ihn zu. Dann kniete sich der Ritter mit steifen Bewegungen vor Travis in den Schnee.
»Komm zu uns zurück«, sagte er.
Travis brachte bloß ein Nicken zustande, ihm fielen keine Worte mehr ein. Dann schloß er die Finger um die halbe Münze, schloß die Augen, und sah keine Finsternis, sondern Licht.
Er konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen, aber er war für den Rest seiner Tage davon überzeugt, daß ihm Lautenspiel folgte, das Falkens leise gesungenen Worte untermalte.
»Wir leben unser Leben, als wär’s ein Kreis,
wir wandern drauflos und voraus.
Dann, nach Feuer und Staunen,
enden wir wieder dort, wo alles begann.
Ich reiste südwärts,
im Süden weinte ich.
Dann reiste ich nordwärts,
dort, ich vergaß es nie, lachte ich.
Eine Zeitlang verweilte ich
im östlichen Lande des Lichts,
bis ich weiter nach Westen reiste,
allein in schattenerfüllter Nacht.
Zur Frühlingszeit ward ich geboren,
im Sommer wurde ich stark.
Aber der Herbst dämpfte mein Augenlicht,
damit ich den langen Winter schlief.
Wir leben unser Leben, als wär’s ein Kreis,
wir wandern drauflos und voraus.
Dann, nach Feuer und Wundern,
enden wir wieder dort, wo alles begann.«
POSTSKRIPTUM
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