Keine Zeit für Vampire
1
Die unglaublichen Abenteuer der Jolanthe Tennyson
10. Juli
»Darf’s ein Brustwarzentattoo sein, Madame?«
Genau damit hat alles angefangen. Mein Abenteuer begann weder am Flughafen noch in Gretls Haus und auch nicht beim Stadtrundgang durch St. Andras, dem kleinen Ort in Österreich, wo meine Cousine Gretl wohnte. Nein, alles fing mit einer Unterhaltung über Brustwarzen an, und da ich mein Abenteuer in allen Einzelheiten für die Nachwelt festhalten will, möchte ich die Geschehnisse auch so genau wie möglich aufzeichnen.
Etwas so Seltsames ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht passiert, aber das hätte ich jetzt vielleicht lieber noch nicht erwähnen sollen, denn damit nehme ich ja schon einen Teil der Ereignisse vorweg, und in dem Kurs für kreatives Schreiben, den ich vor sieben Jahren besucht habe, hat man uns beigebracht, dass man so etwas tunlichst unterlassen sollte. Also werde ich es mir ab jetzt verkneifen und alles schön der Reihe nach erzählen – versprochen.
Mist, jetzt habe ich vergessen, wo ich … Ach ja, das Brustwarzentattoo.
»Ähm …«, beantwortete ich irritiert die Frage der freundlichen Dame mit der Stachelfrisur. Sie trug ein kurzes Lolita-Rüschenröckchen und ein rot-weiß gestreiftes Lackkorsett, in dem sie mit Sicherheit unheimlich schwitzte. »Ich glaube nicht, dass … eine Tätowierung auf der Brustwarze? Das geht? Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Es hört sich jedenfalls schmerzhaft an und auch ziemlich verrückt.«
Die Frau zuckte mit den Schultern und begann, einen mit schwarzem Leder bezogenen Friseurstuhl abzuwischen. »Solch eine Tätowierung sagt viel über die Persönlichkeit desjenigen aus, der sie sich machen lässt. Da Madame die Fotos so fasziniert betrachtet, dachte ich, dass Madame vielleicht selbst Interesse an solch einem Tattoo hat.« Sie musterte abschätzig meine Brust. »Vielleicht möchte Madame ja das, was ihr die Natur mitgegeben hat, noch etwas mehr hervorheben.«
»Zugegeben, Madame hat nicht gerade Riesenmöpse abbekommen, aber sie kann Schmerzen absolut nichts abgewinnen, und schon gar nicht, wenn ihre Nippel dabei ins Spiel kommen. Ich habe übrigens nicht die Fotos Ihrer Kundschaft betrachtet«, fügte ich hinzu und bemühte mich, die Schnappschüsse der frisch gepiercten und tätowierten Kunden, die eine ganze Wand in ihrer kleinen Bude einnahmen, nicht anzusehen. »Mich fasziniert die Büste, die dort hinten steht. Das ist ein phrenologischer Kopf, oder? Anhand dessen hat man doch im letzten Jahrhundert versucht, die Bedeutung der Ausbuchtungen des menschlichen Schädels zu deuten.«
»Richtig. Er gehört meiner Partnerin Justina. Heute ist sie in Salzburg, aber falls Sie Interesse daran hätten, Ihren Schädel analysieren zu lassen, stände sie Ihnen morgen dafür wieder zur Verfügung.«
»Eigentlich bin ich Fotografin.« Ich hielt ihr meine kleine Nikon hin. »Amateurfotografin, um genau zu sein, aber ich hoffe, dass ich während meines Aufenthalts hier in Österreich genügend Bilder machen kann, um sie als Basis für eine neue Karriere zu nutzen. Mir gefällt es, wie Sie den phrenologischen Schädel da hinten arrangiert haben. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich ein paar Aufnahmen davon mache?«
Wieder zuckte sie nur mit den Schultern und deutete mit einer desinteressierten Geste nach hinten in die Bude. »Ganz wie Madame wünscht.«
»Werden Sie denn länger bleiben … Sie und die anderen Mitglieder des … ähm … Kuriositätenkabinetts?«, erkundigte ich mich und machte einige Probeaufnahmen. Dann nahm ich einen meiner Filter zur Hand, um den Aufnahmen etwas mehr Kontrast zu verleihen.
»Die GothFaire ist kein Kuriositätenkabinett. Wir sind ein Jahrmarkt. Bei uns gibt es nicht nur Zauberei und Magie zu bestaunen, unsere Händler bieten darüber hinaus eine Vielzahl an mystischen Raritäten und außerordentlichen Dienstleistungen«, erläuterte die Frau in einem leicht singenden, skandinavischen Akzent. »Wir sind keine Freaks, die um Aufmerksamkeit heischen. Wir kennen uns aus mit altem, überliefertem Wissen, das lange in Vergessenheit geraten war. Wir sind Kunsthandwerker und Magietreibende und können die unglaublichsten Fantasien wahr werden lassen.«
»Wow. Das ist mal ein tolles Angebot«, murmelte ich und trat zur Seite, um mit einem anderen Filter eine weitere Serie zu schießen.
»Wir sind einzigartig. Madame wird nirgends auf der Welt etwas Vergleichbares finden. Wir sind Mystiker und
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