Die letzte Rune 04 - Die Flammenfestung
ansonsten saubere graue Kutte hier und da mit Essen und Wein bekleckert war. Trotz der Linien um Mund und Augen und des dünner werdenden Haars wies sein Gesicht eine jungenhafte Beschaffenheit auf. Aus irgendeinem Grund kam ihm der Runensprecher vage bekannt vor. War er ihm bereits irgendwo zuvor begegnet?
»Das ist Bruder Eriaun«, sagte Larad in einem übertrieben leisen Tonfall, zweifellos zu Travis’ Nutzen. »Er stand Euch während Eurer Krankheit bei.«
Natürlich. Darum kam ihm der andere vertraut vor; er mußte ihn während seines Deliriums gesehen haben. »Danke, daß Ihr mir geholfen habt.«
Bruder Eriaun lächelte, in seinen Wangen traten Grübchen zum Vorschein. »Nichts zu danken. Ich bin einfach nur erfreut, Euch wohlauf zu sehen. Eine Zeitlang hatte ich die Befürchtung, es wäre die Feuerkrankheit.«
Diese Worte ließen Travis frösteln. Wieder stieg die reißerische Schlagzeile vor seinem inneren Auge auf: Arzt bezeichnet es als ›neuen Schwarzen Tod‹. Er wollte Eriaun sofort danach fragen.
»Dieser Chor hat begonnen«, intonierte eine Stimme, bevor er dazu kam. »Sollen sich unsere Worte zusammenfinden wie ein Wort, und unsere Gedanken wie ein Gedanke.«
Oragien hatte das Podium betreten. Der Großmeister stützte sich auf seinen Stab, aber irgendwie sah er nicht im mindesten gebrechlich aus. Sein Blick war so durchdringend wie der eines Falken, und sein weißes Haar und der Bart leuchteten in dem farblosen Licht, das sich aus der Höhe herabsenkte. Bloß daß hier weder Fackeln noch Kerzen zu sehen waren. Wie wurde das Gemach erleuchtet?
Instinktiv legte Travis den Kopf schräg und lauschte. Dann hörte er es, ein einziges Wort in der Flut aus unablässigem Raunen, die anschwoll und wieder verebbte. Es war nur ganz schwach und doch unmißverständlich. Lir.
Er schüttelte erstaunt den Kopf. Wie lange würde die Rune durch die Luft hallen und das Chorgemach mit ihrem sanften Licht erfüllen? Travis vermochte es nicht zu sagen. Vermutlich würde sie Bestand haben, bis jemand die Rune Bri sagte und einen Vorhang der Dunkelheit auf das Gemach niedergehen ließ.
Travis beugte sich zu Bruder Eriaun hinüber. »Fangt ihr jetzt alle zu singen an?«
»Singen?« Der Runensprecher legte die fleischige Stirn in Falten. »Wieso? Hier wird nicht gesungen, Bruder Wilder.«
Jetzt war es an Travis, die Stirn zu runzeln. »Aber ich dachte, daß alle singen. Dafür tritt ein Chor doch zusammen.«
»Das ist ja auch richtig – es ist eine Zeit, in der alle sprechen dürfen, in der alle Stimmen zu einer werden.«
Bevor Travis weiterfragen konnte, sprach Oragien weiter, und jedes seiner Worte hallte durch den Raum, bevor es mir dem wispernden Hintergrund verschmolz. »Wie alle sehen können, ist Bruder Wilder aus der Krankheit erwacht, die ihn seit seiner Ankunft in ihren Fängen hatte. Nun ist die Zeit gekommen, ihm zu sagen, warum wir ihn aus seiner fernen Heimat zu uns riefen.«
Oragiens Ansprache rief in dem Gemach allgemeines Nicken und zustimmende Laute hervor. Der Großmeister drehte sich um und sah Travis direkt an.
»Bruder Wilder, ich weiß, daß Ihr einige Zeit auf Calavere bei Bruder Jemis studiert habt, aber ich weiß nicht, was er Euch beigebracht hat. Ich konnte nicht mit Bruder Jemis sprechen, bevor er … bevor er diese Welt verließ.«
Travis biß die Zähne zusammen. Du meinst, bevor Jemis von seinem Studenten Rin erwürgt wurde, der zu einem Eisenherzen und Diener des Fahlen Königs geworden war. Aber er unterbrach den Großmeister nicht.
»Die Runensprecher blicken auf eine Geschichte zurück, die viele Jahrhunderte umfaßt«, sagte Oragien. »Es ist eine stolze Geschichte. Aber auch eine, die bei den meisten in Vergessenheit geraten ist. Ich weiß nicht, ob Jemis Euch dieses Wissen vermittelt hat, aber die Runensprecher sind nicht mehr so … wohlgelitten wie einst.«
Neben Travis erklang ein rauhes Lachen. Bruder Larad. »Wir sind vieles nicht mehr, was wir einst waren.«
Oragien warf Larad einen mißbilligenden Blick zu. Der schwarzhaarige Runensprecher nahm seine Worte zwar nicht zurück, aber er hielt den Mund.
»In letzter Zeit ist bei einigen diese Abneigung zu Haß geworden«, fuhr Oragien fort. »Wie ich fürchte, seid Ihr unten im Dorf damit konfrontiert worden.«
Travis schüttelte den Kopf. »Aber warum? Warum verabscheuen die Menschen die Runensprecher so sehr?«
Oragien zuckte mit den Schultern. »Das ist eine Frage, die wir uns selbst oft gestellt haben.
Weitere Kostenlose Bücher