0803 - Im Folter-Keller des Vampirs
Zitternd griff Aron Cassianus nach dem Paar Krücken, die er hinter sich gegen den Arbeitstisch gelehnt hatte. Er hasste die Gehhilfen, doch nun waren sie so etwas wie ein Anker, an dem er sich festhalten konnte.
Er lauschte in sich hinein. Das Gefühl des nackten Entsetzens war fort, wie weggewischt. Doch da war eine andere Empfindung, die sich langsam zur Oberfläche seines Denkens empor drängte. Es war ein Sehnen, ein tiefer Wunsch, den Stein erneut zu berühren, ihn zu bearbeiten. So schnell es Aron möglich war, bewegte er sich rückwärts zum Ausgang.
Etwas wurde ihm von Sekunde zu Sekunde klarer: Wenn er jetzt zögerte, dann hatte er diesen Kampf verloren!
Wilde Freude durchzuckte den Blinden, als er endlich die Tür im Rücken fühlte. Ruckartig drehte Cassianus sich herum und stürzte aus dem Raum. Nur, mit Mühe konnte er das Gleichgewicht halten, als eine der beiden Krücken der Tür den entscheidenden Stoß versetzte. Das Türblatt schnappte ins Schloss.
Erst einmal sicher… ganz ruhig, Aron. Verdammt, was war das eben?
Direkt an das Atelier schloss sich seine Wohnung an. Aron stützte sich schwer auf die Krücken und arbeitete sich zum Bad vor. Am ganzen Leib spürte er den Angstschweiß; der langsam zu trocknen begann. Die Kleidung klebte unangenehm an seinem Körper, doch irgendwie schaffte er es doch, sich ihrer zu entledigen.
Nur eine Minute später ergoss sich das eiskalte Wasser der Dusche über den Bildhauer. Es schien, als würde es auch seine Gedanken reinigen. Was war nur vorhin mit ihm geschehen? Aron rekonstruierte den vergangenen Abend. Er hatte ihn alleine in seinem Domizil verbracht, was nicht unbedingt oft vorkam.
Aron Cassianus war ein berühmter und begehrter Künstler - wobei begehrt auch im körperlichen Sinn zu verstehen war. Aron liebte die Frauen - die Frauen liebten Aron. So einfach war das.
Er war im vergangenen Monat neununddreißig Jahre alt geworden, wirkte jedoch wie ein Endzwanziger. Sport hatte er in seinem ganzen Leben nicht getrieben, doch seine Figur erinnerte an die eines Langstreckenläufers. Seine grauen Haare, in denen schlohweiße Strähnen blitzten - seine introvertierte und dennoch liebenswürdige Art -dazu seine Blindheit, die bei vielen Frauen einen zusätzlichen Beschützerinstinkt auslöste… all das machte Aron zu einem Favoriten des weiblichen Geschlechts.
Noch vor acht Jahren hatte er reichlich mittellos in New York gehaust. Damals hatte Aron sich nur durchschlagen können, weil er ein paar wirklich gute Freunde besaß - und seine Schwester Melinda, die ihren großen Bruder niemals im Stich ließ.
Aron Cassianus war als Geheimtipp der Szene gehandelt worden. Das klang gut, machte durchaus stolz, doch es füllte seinen Magen nicht.
Der blinde Bildhauer - was für ein Klischee.
So etwas gehörte in Kitschromane oder Hollywood-Schinken. Lange Zeit hatte Aron so gedacht und sich dagegen gewehrt. Bis zu dem Tag, an dem ihm ein stinkreicher Kunsthändler den Kopf zurecht gerückt hatte. Er würde die Sätze nie vergessen, die sein Leben nachhaltig verändert hatten:
Sie leben für Ihre Kunst, die reine und unabhängige Kunst. Der Kommerz widert Sie an, ich weiß. Sie sind ein großer Künstler, Aron Cassianus, doch sie werden vor die Hunde gehen. Füttern Sie die Meute, geben Sie dem Mob, was er haben will. Dann sind Sie bald ein gefeierter Star, das verspreche ich Ihnen. Sie haben die Wahl. Aber man wird nicht ewig auf Sie warten, das sollten Sie nie vergessen.
Aron hatte gewählt.
Es war alles so einfach, so mühelos gewesen. Cassianus hatte sich in das Klischee ergeben, das er so ablehnte. Die Aufmerksamkeit der Kunstwelt wuchs, als er verkündete, nur durch Ertasten eines Steines dessen spätere Form exakt zu kennen. Und Aron musste dabei nicht einmal übertreiben oder gar lügen, denn genau so war es. Schon als Kind hatte er diese Fähigkeit besessen, doch außer seiner Schwester hatte ihm das niemand wirklich geglaubt.
Alles Weitere ging von selbst - Einladungen, Interviews, erste Ausstellungen, schließlich und endlich auch der Durchbruch in finanzieller Hinsicht. Heute reichte bereits die Nennung seines Namens auf der Gästeliste einer Vernissage aus und das Event wurde ein voller Erfolg.
Aron stoppte den Wasserfluss und tastete nach dem Bademantel, ein Geschenk Melindas. Ein weißer Bademantel, hatte sie betont gesagt. Es war eine ihrer Marotten, Aron immer wieder die Farben von Gegenständen zu nennen. Dabei wusste niemand besser als
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