Die Letzte Spur
November 2002
Es würde schneien an diesem Wochenende. Das hatten die Meteorologen prophezeit, und es sah aus, als könnten sie recht behalten: Es war eisig kalt an diesem Novembernachmittag. Ein scharfer Wind blies aus Nordost. Wer aus dem Haus musste, dem tränten rasch die Augen, und die Haut brannte. Die frühe winterliche Dunkelheit brach bereits herein. Den ganzen Tag war es nicht richtig hell geworden, und nun schien die Dämmerung schon wieder in den Abend überzugehen.
Die junge Frau sah erbärmlich aus. Verfroren, bleich, mit roten Flecken auf den Wangen. Sie hielt beide Arme um ihren Körper geschlungen, als könnte sie der gnadenlosen Kälte, die draußen herrschte, auch hier drin nicht entkommen. Dabei war der Keller des gerichtsmedizinischen Instituts gut geheizt. Jedenfalls der kleine Vorraum, in den Inspector Fielder und seine Mitarbeiterin, Sergeant Christy McMarrow, die Besucherin geleitet hatten, nachdem diese die unbekannte Tote aus dem Epping Forest identifiziert hatte.
Sie hatte nur einen einzigen, kurzen Blick auf das wächserne Gesicht geworfen, sich dann rasch abgewandt und hörbar mit einem Würgen in der Kehle zu kämpfen gehabt. Dabei hatte sie nicht einmal den übel zugerichteten Körper gesehen.
Der, so hatte Fielder gedacht, hätte sie wahrscheinlich in Ohnmacht fallen lassen.
Es hatte ein paar Augenblicke gedauert, bis sie hatte sprechen können.
»Das ist sie. Das ist Jane. Jane French.«
Im Vorraum bat sie um eine Zigarette. Fielder gab ihr Feuer. Ihre Hände zitterten heftig, aber das lag nicht nur an der belastenden Situation. Die Frau war drogensüchtig, das hatte er auf den ersten Blick erkannt. Prostituierte, wie ihre Kleidung verriet. Ihr Rock war so kurz, dass es nicht viel geändert hätte, wenn sie ihn überhaupt nicht getragen hätte. Hauchdünne schwarze Strümpfe, nicht im Mindesten geeignet, sie vor der Kälte zu schützen. Hochhackige Stiefel, eine blousonähnliche Jacke aus einem metallisch glänzenden Stoff, weit geöffnet, um möglichst viel von ihren üppigen, gut geformten Brüsten zur Geltung zu bringen. Sie war jung, Anfang Zwanzig, schätzte Fielder.
»Also, Miss Kearns«, sagte er, bemüht, besonders sachlich und kühl zu erscheinen, um auch ihr Gelegenheit zu geben, sich zu fassen, »Sie sind völlig sicher, dass es sich bei der Toten um eine … Jane French handelt?«
Lil Kearns zog heftig an ihrer Zigarette und nickte. »Absolut. Das ist sie. Hab sie sofort erkannt. Sieht schon … na ja, verändert aus, aber klar, sie ist es!«
»Sie muss fast eine Woche im Wald gelegen haben, ehe sie gefunden wurde. Das heißt, sie wurde um den zehnten November herum ermordet.«
»Ermordet … ist das sicher?«
»Leider ja. Die Art ihrer Verletzungen, die Tatsache, dass sie gefesselt war, als sie gefunden wurde, lässt keinen anderen Schluss zu.«
»Schöne Scheiße«, sagte Lil.
Sie hatte sich am Morgen dieses Tages gemeldet, nachdem die Polizei es schon fast aufgegeben hatte, noch irgendeinen Hinweis auf die Identität der Toten aus dem Epping Forest zu bekommen. Man tappte seit fast vierzehn Tagen völlig im Dunkeln. Spaziergänger hatten die Frau gefunden, und die Art ihrer Verletzungen, die Grausamkeit, die sich in der Gewalttätigkeit offenbarte, mit der sie gequält und umgebracht worden war, hatte selbst hartgesottenen Beamten erst einmal die Sprache verschlagen.
»Das war ein Psychopath«, hatte irgendjemand schließlich gesagt, und alle hatten genickt. Die junge Frau musste einem völlig durchgeknallten Typen in die Hände gefallen sein.
Ihre Kleidung – oder vielmehr: was von ihrer Kleidung noch übrig war – hatte sie als Prostituierte ausgewiesen, so dass die Vermutung nahelag, dass sie zu dem falschen Freier ins Auto gestiegen war. Leider kamen solche Fälle nicht allzu selten vor, auch wenn sie dann nicht mit einer solch beispiellosen Brutalität einhergingen. Aber es liefen jede Menge Perverse herum, und nirgendwo konnten sie sich so bequem bedienen wie auf dem Straßenstrich. Nicht jedem sah man es an, dass er falsch tickte. Inspector Fielder hatte Triebtäter erlebt, die ein Aussehen und Auftreten hatten, dass jede Mutter sie sich als Schwiegersohn gewünscht hätte.
Die Tote hatte keine Papiere bei sich gehabt, und sie passte auch zu keiner der vorliegenden Vermisstenmeldungen. Man hatte ihr Bild in den Zeitungen veröffentlicht, aber auch darauf hatte es zunächst keine Reaktion gegeben. Bis Lil Kearns aufgekreuzt war und
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