Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)
muss.
Langsam richtete sie sich wieder auf, bis sie aufrecht auf dem Sofa saß.
»Ich verstehe nicht«, sagte sie schließlich. »Was hat das mit mir zu tun? Oder überhaupt mit dir? Dass sich diese furchtbaren Dinge zutrugen, war doch nicht deine Absicht?«
»Kennst du das Sprichwort denn nicht? Der Weg zur Hölle ist mit guten Absichten gepflastert. Meine Absicht war, in Frieden gelassen zu werden und dazu noch ein anständiges Bett und anständiges Essen zu haben. Aber was ich getan habe, ist genau das, was du gesagt hast. Die Katastrophe verfolgt mich überallhin. Dort drüben saß ich im Dunkeln und musste deinem kinnlosen Schönling zuhören, wie er über seinen Ruf jammerte…«
»Er ist nicht kinnlos!«
»Sei still! Mein Ruf ist, dass ich ein blutrünstiges Kerlchen sei, dem das Leben eines Menschen nicht mehr wert ist als das eines Straßenköters. Mein Ruf ist, dass ich alles fresse, was mir vor die Hände gerät. Du hast mich ihnen ausgeliefert. Das Blut all der Menschen, das ich seither vergossen habe, ist an deinen Händen genauso wie an meinen.«
»Und warum hörst du nicht einfach auf, Leute umzubringen, statt allen anderen die Schuld zu geben?«
Das stieß sie heftiger hervor, als unter diesen Umständen ratsam gewesen wäre, aber immerhin bewies es, dass es ihr an Mut nicht mangelte.
»Sagst du mir auch noch, wie ich das anstellen soll? Die Erlöser hören nicht auf, nicht um alles in der Welt. Sie haben vor, die ganze Welt wie einen alten Teppich aufzurollen, Pech darüberzugießen und ihn anzuzünden. Niemand kann das aufhalten.« Er starrte sie mit durchdringendem, hasserfülltem Blick an. Man muss es ihr lassen: Sie starrte nicht weniger hasserfüllt zurück. »Und jetzt gehe ich– durch die Tür– anders, als ich hereingekommen bin, falls dich das interessiert. Ich will, dass du in den nächsten Nächten gründlich darüber nachdenkst. Du wirst nach niemandem rufen, weil ich jeden töten werde, der dir zu Hilfe kommt, und selbst wenn man mich fängt, werde ich lauthals verkünden, dass du selbst gesagt hast, dass nicht dein kinnloser Schönling, sondern ich der Vater deines Kindes sei.«
»Er würde es dir nicht glauben.«
»Es reicht, wenn er es ein bisschen glaubt.«
Und damit ging er zur Tür und verschwand.
Schnell schlich er durch die fast leeren Flure– nur ein paar junge und völlig unerfahrene Wärter standen Wache, denen er leicht aus dem Weg gehen konnte. Hochzufrieden blickte er auf sein Tagwerk zurück; er hatte dafür gesorgt, dass sie sich schlechter fühlte, und das war alles, was wirklich zählte. Es war schwer zu sagen, ob ihm angesichts der unbeabsichtigten Konsequenzen seiner Befehle bezüglich der Frauen und Kinder auf dem Veldt wirklich schier das Herz brach. Wie sagt doch der Engländer: Die Wahrheit hängt immer davon ab, wo man eine Geschichte beginnt.
Schon am nächsten Tag dachte Cale ein wenig anders über seinen spätnächtlichen Besuch. Alles in allem betrachtet hatte er nur einer hochschwangeren Frau mit Gewaltanwendung gedroht und dafür gesorgt, dass er tatsächlich wie das Ungeheuer erschien, als das ihn Arbell beschrieben hatte, während er im dunklen Winkel stand und lauschte. Und was das Kind betraf– nun, bestimmt hatte sie ihn nur belogen, um ihre Haut zu retten. Er fand es unerträglich, auch nur daran zu denken, was sein würde, wenn sie nicht gelogen hatte. Also dachte er nicht darüber nach.
Bedrückt und beschämt unternahm er einen Spaziergang und gelangte rein zufällig in einen großen Park, der sich in der exzentrischen Form eines riesigen Salamanders direkt nördlich des Stadtzentrums erstreckte. Für die Zeit des Jahres war es warm, die Sonne schien, und der Park war voller Leute, flirtender junger Männer und Frauen, und überall spielten und plärrten Kinder. In den großen Promenaden mit ihren gerade aufblühenden Linden wandelten ältere Ehepaare im sogenannten passagiata auf und ab, ein Brauch, für den Spanish Leeds schon vor zweihundert Jahren berühmt geworden war und bei dem es nur darum ging, zu sehen und gesehen zu werden. Cale fühlte sich ein wenig benommen; ein Ohr schien leicht blockiert, als befände sich noch Wasser vom letzten Bad darin. Er schlenderte durch die Sonne, bis er an den Rand des Parks gelangte– eine riesige Mauer, die in den Granit gehauen worden war, auf dem die Stadt ruhte. Die Mauer war verziert mit den großen Statuen der antagonistischen Reformatoren, die in der Anfangsphase– der
Weitere Kostenlose Bücher