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Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Titel: Die letzten Gerechten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Hoffman
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durfte. Man kann sicher sein, dass dazu sehr, sehr viele Schmerzensschreie gehörten.
    Wenn es einfach gewesen wäre, aus der Ordensburg zu entkommen, hätte Cale längst die Flucht ergriffen. Denn wie in dem oben zitierten Lied von Thomas Cale behauptet wird, brauchte man dazu ein Seil, aber eine Verschwörung zur Ermordung des Papstes gehörte nicht dazu. Genau diese jedoch erfand Bosco, um die Flucht seines Akoluthen zu vertuschen, den er aus einem ganz bestimmten Grund wieder in seine Gewalt bringen wollte– und dieser Grund hatte nichts mit der bizarren und grausigen Tätigkeit zu tun, der sich Picarbo hingegeben hatte. Was im Gedicht nicht erwähnt wird, ist die Tatsache, dass Cale auf seiner Flucht von drei weiteren Menschen begleitet wurde: von dem Mädchen, das er gerettet hatte, von Vague Henri, dem einzigen Jungen in der Ordensburg, den Cale halbwegs erträglich fand, und von Kleist, der Cale wie alle anderen in der Ordensburg mit Misstrauen und Abneigung begegnete.
    Cales Intelligenz war durch langes Training geschult und geschärft worden; jetzt half sie ihm zu vermeiden, dass er von den Kriegermönchen wieder eingefangen wurde. Aber sein sprichwörtliches Pech führte dazu, dass alle vier vor der großen Stadt Memphis einer Patrouille der Materazzi-Kavallerie direkt in die Arme liefen. Memphis ist größer und reicher und vielfältiger als Paris oder Babylon oder sogar Sodom, auf das sich im oben zitierten Lied ein Hinweis findet, der ziemlich wahr klingt. In Memphis wurden nicht nur der große Kanzler der Stadt, Vipond, sondern auch sein unberechenbarer Halbbruder IdrisPukke auf die vier Gefährten aufmerksam, wobei IdrisPukke aus Gründen, die niemandem so recht klar waren, Gefallen an Cale fand und ihm etwas entgegenbrachte, das Cale noch nie zuvor widerfahren war: ein wenig Freundlichkeit.
    Allerdings würde es sehr viel mehr als nur ein bisschen Anstand erfordern, Cale auf die eigene Seite zu ziehen. Denn Cales Misstrauen und Feindseligkeit trugen ihm schon bald den Hass fast jeder Person ein, mit der er zusammentraf, von Conn, dem verhätschelten Goldknaben des Materazzi-Clans, bis hin zur reizenden Arbell Materazzi. Arbell wurde allgemein »Schwanenhals« genannt, und keineswegs zufällig ist ein Schwan in dem Traum, mit dem wir unsere Erzählung einleiteten, der Gegenstand seines Hasses. Sie war die Tochter des Mannes, der über das Materrazi-Reich herrschte, das so riesig war, dass in ihm die Sonne niemals unterging. Bosco hatte jedoch großen Wert darauf gelegt, Cale zu absoluter Feindseligkeit zu erziehen, und hatte nun nicht die Absicht, tatenlos zuzusehen, wie er diese Eigenschaft missbrauchte, weil es ihn wahrscheinlich das Leben kosten würde. Es dürfte kaum überraschen, dass Arbell Materazzi Cale nicht ausstehen konnte, und ebenso wenig, dass ein Mensch wie Cale gar nicht anders konnte, als sich in diese für ihn unerreichbare Schönheit zu verlieben. Sie behandelte ihn weiterhin als gemeinen Schläger, auch dann noch– oder sogar erst recht–, nachdem er ihr während eines erbarmungslos tödlichen Gewaltausbruchs das Leben gerettet hatte. Der Aufruhr wurde später von seinen Feinden als angeberisches Draufgängertum heruntergespielt. Kleist warf Cale sogar vor, dass ihm auf Schritt und Tritt unweigerlich eine Beerdigung nachfolge. Diesen Vorwurf begriffen fast alle, ganz besonders IdrisPukke, der Augenzeuge der mörderisch kalten Rettung Arbells geworden war. Doch für einen jungen Mann können das Fremde und das Seltsame zu starker Tobak sein, und vor diesem Hintergrund müssen wir auch die Anspielung im Lied verstehen, die sich auf die versuchte Verführung Cales durch die liebliche Arbell bezieht. Nur handelte es sich eben nicht um eine Verführung, sofern man unter Verführung die Überredung einer zögerlichen Person versteht; außerdem kam zu keinem Zeitpunkt das Wort »Nein!« oder etwas Gleichbedeutendes über Cales Lippen. Sie jedenfalls bezahlte niemanden dafür, um ihn ermorden zu lassen– schon deshalb nicht, wie Kleist später witzelte, nachdem er das vorstehend zitierte Gedicht gelesen hatte, weil es jede Menge Leute gab, die den Job herzlich gerne umsonst ausgeführt hätten.
    Gleichermaßen unzuverlässig ist die Behauptung, dass Arbells Vater jemals die leiseste Absicht gehegt habe, dem Erlöserorden den Krieg zu erklären. Seine Angriffsabsicht ist eine Erfindung Boscos und diente dazu, seinen Vorgesetzten eine Begründung zu liefern, um selbst einen Krieg vom

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