Die letzten Tage
Fähigkeiten und Kräfte, auch wenn man ihm die Flügel genommen hatte. Obwohl er mitten unter den Menschen lebte, berührte ihn weder ihr Glück noch ihr Kummer. Warum auch? Sie bedeuteten ihm nichts. Außer Verachtung konnte er nichts für sie empfinden.
Die einzigen Menschen, die er jemals geliebt hatte, waren tot. Auf dem Scheiterhaufen verbrannt von ihresgleichen. Und warum? Weil sie Merle für eine Hexe hielten und ihr Kind für die Brut des Teufels.
Um ein Haar hätten sie auch ihn getötet. Als Zack begriff, was die Meute plante, hatte er versucht, seine Familie zu beschützen. Doch beim Anblick seiner Flügel, die sich von einem inneren Instinkt gesteuert bei Gefahr entfalteten, waren sie vollkommen durchgedreht.
Sie hatten an ihm gezerrt und gezogen, bis seine Schwingen schließlich …
Kurz schloss er die Augen, um die schmerzhaften Erinnerungen zu vertreiben. All die langen Jahre hatte er sich in einen Panzer aus Eis gehüllt, den nichts und niemand durchdringen konnte.
Bis er Grazia begegnet war.
Sie schaffte es, die Mauern einzureißen, die er um sich herum errichtet hatte. In ihrer Nähe fühlte er sich so lebendig wie schon seit einer Ewigkeit nicht mehr. Sie ließ sein Herz schneller schlagen und erweckte Seiten in ihm zu neuem Leben, die er längst verloren zu haben glaubte. Er hatte alles versucht, diese seltsamen Gefühle abzuschütteln, die sie in ihm auslöste – es gelang ihm nicht.
Und dann zog er sie an sich und küsste sie.
Grazia hatte das Gefühl, lichterloh in Flammen zu stehen. Gerade erst den namenlosen Schrecken ihres Albtraums entkommen, fand sie sich jetzt in Zacks Armen wieder, und die Welt um sie versank in Bedeutungslosigkeit.
Es gab nur noch seine Lippen auf ihren. Alle Geräusche um sie herum, die Musik aus der Wohnung ein Stockwerk tiefer, der durch das geschlossene Fenster dringende Verkehrslärm, schienen zu verstummen, sie hörte nur noch das heftige Klopfen ihres eigenen Herzens.
Zacks Küsse brachten sie fast um den Verstand, sie waren sinnlicher und zärtlicher, als sie es sich jemals vorzustellen gewagt hatte. Nie hätte sie geglaubt, dass es so sein konnte. Dass sie überhaupt in der Lage war, etwas Derartiges zu empfinden. Jede seiner Berührungen fachte das Feuer, das in ihrem Inneren loderte, noch weiter an.
Sie dachte nicht nach, sondern ließ sich einfach mitreißen von den wunderbaren Gefühlen, die er in ihr auslöste. Denn sie wusste genau, wenn sie anfing nachzudenken, würde die vernünftige Grazia die Oberhand gewinnen. Die Grazia, die ganz genau wusste, dass sie gerade drauf und dran war, einen möglicherweise nicht wiedergutzumachenden Fehler zu begehen.
Er ist ein Engel! Du kannst doch nicht ernsthaft mit einem Engel …!
Der Gedanke entglitt ihr, als Zack ihren Hals mit einer Spur glühender Küsse überzog. Leise aufstöhnend drängte sie sich an ihn, vergrub die Hände in seinem seidig weichen Haar und warf alle Zweifel über Bord.
Sie wollte ihn, selbst wenn es für sie nur dieses einzige Mal gab.
Draußen hatte es angefangen zu regnen, und das Geräusch der Tropfen, die gegen die Fensterscheibe prasselten, vermischte sich mit ihrem keuchenden Atem. Und als Zack sie auf seinen Armen in ihr Zimmer trug, so mühelos, als wöge sie nicht mehr als eine Feder, wusste sie, dass es nun kein Zurück mehr gab.
Später lag Grazia eng an ihn geschmiegt da und lauschte dem Regen. Mit einem Finger zeichnete sie unsichtbare Muster auf Zacks Brust.
„Wie ist es, dort wo du herkommst?“, fragte sie irgendwann, winkelte den Arm an und stützte den Kopf auf ihre Hand. „Besser als hier?“
Zack schien kurz darüber nachdenken zu müssen, dann schüttelte er den Kopf. „Nein, nicht unbedingt besser – nur anders. Ich meine, das Elysium ist ein wunderbarer Ort. Es gibt keinen Hass und keine Kriege, aber …“ Er runzelte die Stirn. „Es gibt auch keine Liebe, außer der zu Gott natürlich. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll … Kannst du dir einen Ort vorstellen, an dem alles wunderschön und friedlich ist, aber du hast das Gefühl, dass irgendetwas fehlt? Etwas, das deinem Leben wirklich einen Sinn gibt?“
Nun war es Grazia, die zögerte. Sie hatte schon lange den Glauben daran verloren, jemanden lieben zu können …
„Ich … Ich glaube schon“, antwortete sie schließlich. „Und dann hast du diese Frau kennengelernt?“
„Merle – ja. Es war Liebe auf den ersten Blick.“ Er lachte leise. „Ich wusste zuerst gar nicht, wie
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