Die letzten Tage
die große Bahnhofsuhr im Korridor, und sie erschrak. Schon fast acht? In weniger als einer Viertelstunde fing ihr Dienst an, und sie war noch nicht einmal fertig angezogen!
Sie lief zurück ins Schlafzimmer und griff sich einfach eine Jeans und ein schlichtes Shirt aus dem Kleiderschrank. Fünf Minuten später stürmte sie aus ihrer Wohnung. Trotzdem dauerte es noch über eine halbe Stunde, ehe sie – gestresst und total abgekämpft – das Präsidium erreichte, denn der Berufsverkehr war wieder einmal eine einzige Katastrophe gewesen.
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hastete sie die Treppe ins erste Obergeschoss hinauf, in dem das Dipartimento Cinque untergebracht war. Vor der Tür blieb sie noch einmal kurz stehen und atmete tief durch, dann trat sie ein.
Obwohl alle vorgaben, in irgendwelchen wichtigen Aufgaben vertieft zu sein, spürte Grazia, dass ihre Kollegen sie aus den Augenwinkeln heraus beobachteten. Sie tat so, als würde sie nichts bemerken und ging zu ihrem Schreibtisch, auf dem sie einen Zettel vorfand.
Kommen Sie in mein Büro, sobald Sie da sind!
Tozzi.
Grazia unterdrückte ein Seufzen. Sie konnte sich schon denken, was ihr blühte. Das Verhältnis zwischen ihrem Vorgesetzten und ihr war ohnehin nicht als sonderlich gut zu bezeichnen. Nun gab sie ihm auch noch eine solche Vorlage, indem sie zu spät zur Arbeit erschien.
Es nützt ja nichts – besser, du bringst es hinter dich.
Als sie das Großraumbüro auf dem Weg zum „Aquarium“ durchquerte, fiel ihr auf, dass einer der Schreibtische verwaist war. Sie wandte sich an Massimo, den Kollegen, der den Platz direkt daneben besetzte.
„Was ist mit Silvio?“, fragte sie. „Ist er krank?“
Massimo zuckte mit den Schultern, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, von der Akte, in der er gerade blätterte, aufzublicken. „Ist heute Morgen einfach nicht zum Dienst erschienen. Keine Ahnung, was mit ihm los ist, aber ich kann nur für ihn hoffen, dass er eine wirklich gute Erklärung hat, denn der Alte hat heute verdammt schlechte Laune.“
Grazia schluckte schwer, dann ging sie weiter.
Durch die Glasscheibe sah sie, dass Commissario Tozzi hinter seinem Schreibtisch saß und telefonierte. Das Gespräch schien ganz und gar nicht nach seinen Wünschen zu verlaufen, wie die anschwellende Ader auf seiner Stirn anschaulich bewies. Massimo hatte also nicht übertrieben, seine Stimmung war alles andere als gut. Doch da musste sie jetzt durch.
Sie straffte die Schultern und klopfte an. Tozzi blickte auf und winkte sie mit einer harschen Geste herein.
„Wir sprechen später weiter“, bellte er in den Telefonhörer und knallte ihn zurück auf die Gabel. Dann wandte er sich an Grazia. „Machen Sie die Tür hinter sich zu, Bassani, und dann kommen Sie verdammt noch mal endlich her!“
Grazia tat, wie er ihr geheißen hatte. Das Herz klopfte ihr jetzt bis zum Hals. Plötzlich war sie gar nicht mehr sicher, dass ihr bloß ein Anpfiff bevorstand. Tozzi wollte sie doch nicht etwa rausschmeißen?
Mit zitternden Knien setzte sie sich auf den Besucherstuhl, ohne eine Aufforderung abzuwarten. „Sie wollten mich sprechen?“
„Es hat wieder einen gegeben“, knurrte Tozzi.
Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, wovon er sprach – dann richtete sie sich kerzengerade auf ihrem Stuhl auf. „Ein weiteres Mordopfer? Wann? Und wo?“
Der Commissario antwortete nicht sofort. Stattdessen musterte er sie durchdringend, ehe er fragte: „Wo waren Sie gestern Nacht zwischen drei und fünf Uhr, Bassani?“
„Was?“ Verständnislos sah sie ihn an. „Wieso fragen Sie mich? Sie denken doch nicht etwa …!“ Sie schüttelte den Kopf. „Sie glauben, ich hätte etwas mit den Morden zu tun? Ist das wirklich Ihr Ernst?“
Tozzi rollte mit seinem Drehstuhl einen halben Meter zurück, öffnete die oberste Schublade seines Schreibtischs, holte zwei Schwarz-Weiß-Fotos daraus hervor und schob sie zu Grazia hinüber.
Sie nahm sie in die Hand und atmete scharf ein, als sie sich selbst auf den Bildern erkannte.
Sich selbst – und Zack.
Eines war an jenem Abend aufgenommen worden, an dem sie das dritte Mordopfer auf dem Friedhof gefunden hatte, das zweite gestern Nacht auf der Piazza di Spagna .
Kopfschüttelnd legte sie die Bilder wieder zurück. „Was soll das?“, wollte sie wissen. „Lassen Sie mich etwa beobachten?“
Tozzi ging gar nicht darauf ein. „Wer ist der Kerl?“ Er deutete mit dem Finger auf Zack. „Die Wahrheit, Bassani. Los,
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