Die äußerst seltsame Familie Battersby (German Edition)
1. Kapitel
Wünsche sind gefährlich.
Ralphs Eltern jedenfalls hatten das immer behauptet. Warum sollte eine Märchenfee einem Kind auch so viel Macht geben, einfach so, bloß weil das Kind vielleicht eine Münze in einen Springbrunnen geworfen hatte? Die Kindheit, ließen die Eltern Ralph wissen, sei dazu da, Grenzen zu erfahren, anstatt sie mit großartiger Geste und aus den falschen Gründen zu überschreiten.
Ralph glaubte seinen Eltern. Aber die Neugier blieb.
Den Familienstammbaum bewahrten Ralphs Eltern unter ihrem Bett auf, gut versteckt hinter dem staubigen Weihnachtsschmuck. Wenn Ralph danach angelte, musste er höllisch aufpassen, dass er den tanzenden Weihnachtsmann nicht in Gang setzte. Im Kinderzimmer kroch er dann mit dem kostbaren Pergament unter seine Superhelden-Kuscheldecke. Dort faltete er den Stammbaum mit zitternden Händen auseinander. Es war ein kompliziertes, verzweigtes, wild wucherndes Ding – wie Bäume halt sind. Manche Zweige mündeten abrupt in Totenschädeln und geheimnisvollen Formulierungen wie BÖSER-KESSEL-VORFALL oder DRACHENSCHWANZ-HIEB. Erst im letzten Jahrhundert erhielten die Tode banalere Begriffe wie ANEURYSMA oder METASTASEN. Doch auch diese Begriffe hatten immer noch etwas Magisches.
Steve und Mary Stevens stellten als Eltern nicht viele Regeln auf. Es war auch nicht nötig; ihr Sohn brauchte sie nicht. Ralph war immer ein ruhiges Kind gewesen. Manchmal wurde er sogar als fröhlich bezeichnet. Hätte sich aber jemand zu ihm gesetzt und ihn gefragt, ob er das wirklich sei (was übrigens nie jemand tat), dann hätte sich schnell herausgestellt, dass Ralph ein schrecklich ernster Junge war. Seinem Leben, hätte er selbst gesagt, fehle die Richtung. Es sei ein verwirrendes Puzzle, das selbst der schlauste Kopf nicht lösen könne.
Natürlich war Ralph nicht der schlauste Kopf, auch wenn er das selbst vielleicht anders sah. Aber bei einem Jungen mit durchschnittlichem Aussehen und mäßigem sportlichen Talent war Klugheit nun einmal das einzige Kompliment, das der Verwandtschaft einfiel. So kam es, dass sein Selbstbewusstsein etwas aus den Fugen geriet. Mit sieben forderte er seinen ukrainischen Klassenkameraden zu einer nachmittäglichen Schachpartie heraus, veranlasste ein Wettlesen mit Becky Phister und versuchte seine Lehrerin mit Nachdruck davon zu überzeugen, dass Portland die Hauptstadt von Oregon sei. In allem scheiterte er: Der ukrainische Junge setzte ihn nach allen Regeln der Kunst in vier Zügen schachmatt; Becky Phister hatte schon fünf Bücher durch, als Ralph noch sein erstes las; und seine Lehrerin ließ ihn die Hauptstadt von Oregon nachschlagen: Es war Salem.
Trotz dieser Niederlagen hatte Ralph etwas, wovon viele seiner Klassenkameraden nur träumen konnten: das Recht, Fehler zu machen. Die Eltern bestraften Ralph nicht, wenn ihn seine vermeintliche Klugheit auf Irrwege führte – etwa dann, wenn die Dämpfe seines selbst gebastelten Chemielabors den Holzdielen so zusetzten, dass schließlich das ganze Esszimmer in den Keller stürzte. Ralphs Eltern waren unendlich tolerant – mit Ausnahme einer einzigen eisernen Regel: Ralph durfte um alles in der Welt niemals einen Wunsch aussprechen. Unter keinen Umständen, nie.
So verbrachte er die ersten neun Lebensjahre in seliger Unkenntnis dessen, was seine Altersgenossen taten, wenn sie eine Sternschnuppe sahen oder eine Wimper auf der Wange entdeckten oder den Wunschknochen eines Hühnchens entzweibrachen.
Aber dann kam die fünfte Klasse, und die Ferien lagen endlich einmal so, dass er gleich am ersten Schultag seinen Geburtstag feiern konnte. Die Eltern schickten ihn mit zwei Dutzend Schokoladenmuffins in die Schule und gaben ihm einen verschlossenen Umschlag mit einem Hinweis an die Lehrerin mit: Die Muffins für Ralphs Geburtstagsfeier steuerten die Stevens gern bei, ihr Sohn müsse während der Veranstaltung allerdings draußen im Flur bleiben. Die Gefahr, dass jemand eine Kerze mitbrächte und Ralph unter dem unvermeidlichen Gruppenzwang doch einen Wunsch äußerte, war einfach zu groß.
Der erste Schultag ist für jeden eine Tortur, aber für Ralph war es diesmal besonders schlimm. Denn nun stand er im Flur und wartete. Er starrte auf ein Schule ist cool -Poster (ein Wurm mit Brille, der aus einem Apfel herauslugte), während drinnen seine Muffins vertilgt wurden. Die Schmach wurde noch größer. Denn er musste feststellen, dass Johnny Keenes ihm, während er im Flur gestanden hatte, den
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