Die Libelle
solle sie »öffentliche Auftritte vermeiden, die Deine wahre politische Einstellung erkennen lassen«. Sie solle keine radikal-politischen Wochenendseminare mehr besuchen und nicht mehr bei Demonstrationen und Kundgebungen mitmachen. Sie solle sich benehmen »wie eine Bürgerliche« und den Anschein erwecken, als finde sie sich mit den kapitalistischen Gegebenheiten ab. Sie solle den Anschein erwecken, als habe sie »der Revolution abgeschworen«, gleichzeitig jedoch insgeheim »auf alle Fälle mit Deiner radikalen Lektüre weitermachen«. Es gab manches Unlogische, viele Fehler im Satzbau und in der Rechtschreibung. Es war die Rede von »unserer baldigen Wiedervereinigung« (wie man annehmen konnte, in Athen) und gab ein paar gezierte Anspielungen auf weiße Trauben, Wodka und darauf, dass sie gut daran tue, »reichlich zu schlafen, ehe wir wieder zusammen sind«. Während sie weiterlas, machte sie sich allmählich ein neues und bescheideneres Bild von Michel, eines, das dem ihres Gefangenen oben plötzlich viel näher kam. »Er ist ein kleiner Junge«, murmelte sie und sah Joseph vorwurfsvoll an. »Du hast ihn zu groß aufgebaut. Er ist ja noch ein Junge.«
Da sie keine Antwort erhielt, wandte sie sich ihren eigenen Briefen an Michel zu und nahm sie behutsam zur Hand, als enthüllten sie ihr ein großes Geheimnis. »Schulhefte«, sagte sie laut und setzte ein einfältiges Lächeln auf, als sie einen ersten nervösen Blick darauf warf - denn dank des Archivs vom armen Ned Quilley war der alte Georgier nicht nur in der Lage gewesen, Charlies ausgefallenen Geschmack in Bezug auf Briefpapier wiederzugeben - die Rückseiten von Speisekarten, Rechnungen, Papier mit Briefkopf von Hotels und Theatern und Pensionen auf ihrer Reise -, sondern hatte zu ihrem wachsenden Schrecken auch noch die spontanen Variationen ihrer Handschrift wiedergegeben, von den kindlichen Krakeln früher Trauer bis zur leidenschaftlichen, aber doch sehr ausgeschriebenen Handschrift einer liebenden Frau, von den Gute-Nacht-Kritzeleien der erschöpften Schauspielerin, die sich in irgendwelchen Absteigen verkroch und sich nach ein wenig Entspannung sehnte, zu der wie gestochen schreibenden, bemüht-belesenen Revolutionärin, die sich die Mühe machte, eine lange Passage aus Trotzki abzuschreiben, aber aus Versehen das zweite r‹ in ›überrennen‹ ausließ.
Ihr Briefstil war, dank Leon, nicht weniger genau getroffen; Charlie errötete geradezu, als sie erkannte, wie vollkommen sie ihre schaurigen Übertreibungen nachgemacht hatten, ihre Art, plump und unvollkommen zu philosophieren, ihre ausfälligen und erregten Wutausbrüche gegen die herrschende Tory- Regierung. Im Gegensatz zu Michel waren ihre Anspielungen auf ihre Liebe handfest und eindeutig; die Anspielungen auf ihre Eltern abfällig; die auf ihre Kindheit von Empörung und Rachegelüsten getragen. Sie begegnete Charlie der Aufschneiderin, Charlie der Zerknirschten, Charlie der Abgebrühten. Sie begegnete dem, was Joseph das Arabische in ihr nannte - jener Charlie, die in ihre eigene Rhetorik verliebt war, deren Wahrheitsvorstellungen weniger von dem inspiriert waren, was geschehen war, als von dem, was hatte geschehen sollen. Nachdem sie alles durchgelesen hatte, nahm sie sich die beiden Stapel gemeinsam vor und las sie - den Kopf aufgestützt - noch einmal als vollständigen Briefwechsel: ihre fünf Antworten auf jeden einzelnen seiner Briefe, ihre Antworten auf seine Briefe, seine Ausflüchte als Antwort auf ihre Fragen.
»Danke, Jose«, erklärte sie schließlich, ohne den Kopf zu heben. »Vielen, vielen Dank. Wenn du mir für einen Moment unser hübsches Schießeisen leihen würdest - ich geh’ nur eben rasch raus und jag’ mir eine Kugel durch den Kopf.«
Kurtz lachte bereits, obwohl er mit seiner Heiterkeit allein dastand.
»Aber, Charlie, ich finde, das ist wirklich nicht fair unserem Freund Joseph gegenüber. Die Briefe waren ein Gemeinschaftswerk. Dabei haben eine ganze Reihe von klugen Köpfen mitgewirkt.«
Kurtz hatte noch eine letzte Bitte: die Umschläge, die Ihre Briefe enthalten, meine Liebe. Er habe sie hier bei sich, sehen Sie, nur noch nicht frankiert und abgestempelt, und er habe die Briefe noch nicht hineingesteckt, dass Michel sie in Empfang nehmen und feierlich aufmachen könne. Ob Charlie wohl so freundlich sein würde? Hauptsächlich gehe es um die Fingerabdrücke, sagte er; Ihre zuerst, meine Liebe, danach die von den Postbeamten und zuletzt die von Michel.
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