Die Libelle
oben. Sie wusste nicht, warum, aber sie fand es hilfreich, ein wenig zu hinken wie Michel.
Das hölzerne Treppengeländer war noch klebrig vom Schweiß. Die Stufen waren mit einem Material ausgelegt, das wie Sandpapierstreifen aussah, doch als sie darauf trat, blieb das erwartete knirschende Geräusch aus. Sie nahm diese Allerweltsdinge sehr genau in sich auf, denn es gibt Zeiten, in denen solche Details das einzige Bindeglied zur Wirklichkeit darstellen. Eine Toilettentür stand offen, doch als sie genauer hinsah, erkannte sie, dass überhaupt keine Tür da war, nur der Türrahmen, und vom Wasserkasten keine Kette herunterhing, und sie nahm an, dass, wenn man einen Gefangenen den ganzen Tag mit sich herumschleppt, selbst wenn er vor Dope von Sinnen ist, man an so etwas denken, sein Haus in Ordnung bringen musste. Erst nachdem sie ernstlich über jedes dieser wichtigen Probleme nachgedacht hatte, durfte sie sich eingestehen, dass sie in einen ausgepolsterten Raum getreten war, in dem nichts weiter stand als ein Bett an der entgegengesetzten Wand. Und auf dem Bett wieder Michel, nackt bis auf das goldene Amulett, die Hände über dem Geschlecht verkrampft und kaum eine Falte, da wo sich sein Bauch krümmte. Seine Schultermuskeln waren prall und rund, die Brustmuskulatur flach und breit, die Schatten darunter scharf wie mit Ausziehtusche gezogen. Auf Kurtz’ Befehl hin stellten die beiden jungen Männer ihn auf und zerrten seine Hände fort. Beschnitten, gut-entwickelt, schön. Schweigend und mit stirnrunzelnder Missbilligung zeigte der Bärtige auf ein weißes Muttermal an der linken Flanke, das wie ein Milchfleck aussah, sowie auf die unsaubere Narbe einer Stichwunde an der rechten Schulter; und auf das reizende Rinnsal schwarzer Haare, das sich vom Nabel nach unten zog. Schweigend drehten sie ihn um, und sie musste unwillkürlich an Lucy und ihren Lieblingsrücken denken: ein tief zwischen den Muskeln eingebettetes Rückgrat. Aber keine Einschussnarben, überhaupt nichts, was seine vollkommene Schönheit gestört hätte.
Sie drehten ihn wieder um, doch mittlerweile war Joseph wohl zu dem Schluss gekommen, dass Charlie hinreichend bedient sein müsse, denn er führte sie wieder die Treppe hinunter, schnell, einen Arm hatte er ihr um die Taille gelegt, während er mit der anderen Hand ihr Handgelenk so fest hielt, dass es weh tat. In der Toilette, die vom Korridor abging, blieb sie lange genug, um sich zu übergeben, doch danach wollte sie nur noch weg. Raus aus der Wohnung, ihnen aus den Augen, raus aus den eigenen Gedanken, der eigenen Haut.
Sie lief. Sie hatten heute Sport. Sie lief, so schnell sie konnte; die Betonzähne der Stadtsilhouette rings um sie her hüpften aus der entgegengesetzten Richtung an ihr vorbei. Die Dachgärten waren für sie durch zierliche Ziegelwege miteinander verbunden, Verkehrsschilder einer Spielzeugstadt wiesen sie auf Orte hin, die sie nicht lesen konnte, blaue und gelbe Plastikrohre in der Luft bildeten über ihrem Kopf bunte Pinselstriche. Sie lief, so weit sie konnte, hinauf und hinunter, hatte ausgesprochen gärtnerisches Interesse an den vielen verschiedenen Pflanzen an ihrem Weg, den geschmackvollen Geranien und zurechtgestutzten blühenden Sträuchern und Zigarettenkippen und Flecken brachliegender Erde, namenlosen Gräbern gleich. Joseph lief neben ihr her, und sie schrie ihn an, hau ab, hau ab; ein älteres Ehepaar saß auf einer Bank und lächelte wehmütig-versonnen über diesen Streit unter Liebenden. Sie lief so über die ganze Länge von zwei Flachdächern, bis sie an einen Zaun gelangte, hinter dem es steil auf einen Parkplatz abfiel, doch sie beging keinen Selbstmord, weil sie inzwischen schon beschlossen hatte, dass sie nicht der Typ war, und außerdem wollte sie mit Joseph leben und nicht mit Michel sterben. Sie blieb stehen, keuchte kaum. Das Laufen hatte ihr gut getan; sie sollte das viel häufiger tun. Sie bat ihn um eine Zigarette, doch er hatte keine dabei. Er zog sie zu einer Bank; sie setzte sich, stand aber gleich wieder auf, um ihren eigenen Willen zu beweisen. Aus Erfahrung wusste sie, dass gefühlsgeladene Auseinandersetzungen zwischen Leuten, die dabei gehen, wirkungslos verpuffen, und deshalb blieb sie stehen. »Ich rate dir, deine Sympathien für den Unschuldigen aufzuheben«, riet ihr Joseph und schnitt damit in aller Ruhe den Schwall ihrer Beschimpfungen ab.
»Aber er war unschuldig, bis ihr ihn erfunden habt.« Da sie sein Schweigen fälschlich
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