Die Libelle
sehr sorgfältig, als ob ihre Braue das Allerwichtigste auf Erden wäre. »Wer ist es denn, Chas?« fragte eine ländliche Schäferin am Nachbarbecken. Sie kam gerade aus der Schule, geistige Reife etwa wie bei einer Fünfzehnjährigen.
Charlie konzentrierte sich ganz auf ihr Spiegelbild und betrachtete kritisch ihr Werk. »Die müssen doch ‘n Vermögen gekostet haben, Chas, oder?« sagte die Schäferin.
»‘n Vermögen gekostet haben, Chas’«, äffte Charlie nach. Von ihm!
Eine Nachricht von ihm!
Aber warum ist er dann nicht hier? Und warum trägt das Kärtchen nicht seine Handschrift?
Traue keinem , hatte Michel sie gewarnt. Sei aber besonders misstrauisch, wenn jemand behauptet, mich zu kennen .
Eine Falle! Die Bullen! Sie sind dahinter gekommen, wer den Wagen durch Jugoslawien gefahren hat. Sie benutzen mich, um meinen Geliebten in die Falle zu locken.
Michel, Michel! Geliebter, mein Leben - sag, was soll ich tun? Sie hörte, wie ihr Name aufgerufen wurde: »Rosalinde - wo, zum Teufel, steckt Charlie? Charlie, verdammt noch mal!« Auf dem Korridor machte eine Gruppe von Schwimmern mit Handtüchern um den Hals beim Anblick einer rothaarigen Dame, die in einem fadenscheinigen elisabethanischen Fummel aus dem Umkleideraum kam, ausdruckslos-starre Gesichter.
Irgendwie spielte sie. Vielleicht machte sie es sogar gut. In der Pause sah der Regisseur, ein mönchisches Wesen, das sie Bruder Mycroft nannten, sie sonderbar an und fragte, ob sie’s »nicht ein bisschen runterschrauben« könne, und sie versprach ihm betreten, es zu tun.
Doch sie hatte ihn kaum gehört: sie war vollauf damit beschäftigt, die halbleeren Sitzreihen abzusuchen in der Hoffnung, einen roten Blazer zu entdecken.
Vergebens.
Sie sah andere Gesichter: Rachels und Dimitris, zum Beispiel - erkannte sie jedoch nicht. Er ist nicht da, dachte sie verzweifelt. Das Ganze ist ein gemeiner Trick. Es ist die Polizei.
Im Umkleideraum zog sie sich rasch um, band sich das weiße Kopftuch um und trödelte dort herum, bis der Hauswart sie hinauswarf. Im Foyer, wo sie wie ein weißköpfiges Gespenst unter den heimziehenden Sportlern herumstand, wartete sie weiter und drückte sich die Orchideen an die Brust. Eine alte Dame erkundigte sich bei ihr, ob sie sie selbst gezogen habe. Ein Schüler wollte ein Autogramm. Die Schäferin zupfte sie am Ärmel: »Chas - die Party, um alles auf der Welt - Val sucht dich überall.«
Der Haupteingang der Sporthalle wurde hinter ihr zugeworfen, sie trat in die Nachtluft hinaus und wäre fast umgefallen, als der Sturmwind sie mit aller Macht anfiel. Mühselig kämpfte sie sich bis zu ihrem Auto durch, schloss auf, legte die Orchideen auf den Beifahrersitz und zog dann den Wagenschlag zu. Erst wollte der Motor nicht anspringen, und als er es schließlich tat, raste er wie ein Pferd los, das in den heimatlichen Stall will. Als sie die Auffahrt zur Hauptstraße hinunter donnerte, sah sie im Spiegel die Scheinwerfer eines Wagens, der hinter ihr herausfuhr und ihr dann in gleich bleibender Entfernung bis zu ihrer Pension folgte. Sie parkte und hörte, wie derselbe Wind an den Hortensien zerrte. Sie zog den Mantel fest um sich und lief dann, die Orchideen unterm Mantel, rasch auf den Eingang zu. Vier Stufen führten hinauf, und sie zählte sie zweimal - einmal, als sie hinaufsprang, und das zweite Mal, während sie keuchend an der Rezeption stand und jemand mit einem leichten und betonten Trippelschritt hinter ihr herkam. Gäste waren nirgends zu sehen, weder im Aufenthaltsraum noch in der Halle. Der einzig Überlebende war Humphrey, ein Dickens’scher Fettsack, der den Nachtportier spielte. »Nicht sechs , Humph«, sagte sie aufgedreht, als er nach dem Schlüssel suchte. » Sechzehn , mein Bester. Oberste Reihe. Und ein Liebesbrief für mich ist auch da; nicht dass Sie ihn einer anderen geben.«
In der Hoffnung, er komme von Michel, nahm sie das zusammengefaltete Stück Papier von ihm entgegen, und ihr war die unterdrückte Enttäuschung anzumerken, als sie feststellte, dass er nur von ihrer Schwester kam und lautete: »Toi-toi-toi für die Aufführung heute abend« - Josephs Methode, ihr zuzuflüstern: »Wir sind bei dir«, aber so leise, dass sie es kaum hörte. Die Tür zur Halle öffnete sich und schloss sich hinter ihr. Über den
Teppich der Halle kamen die Schritte eines Mannes auf sie zu. Sie gestattete sich einen raschen Blick auf ihn, falls es Michel war. Doch er war es nicht, wie ihr enttäuschter
Weitere Kostenlose Bücher