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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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ihnen führte, hatten sie keine Ahnung, erwarteten das aber auch nicht: Er war der Agentenführer, eine Spezies für sich; er war Becker, unbesungener Held von mehr Geheimmissionen, als die meisten von ihnen Geburtstage aufweisen konnten. Liebevoll nannten sie ihn ›Steppenwolf‹ und erzählten sich gegenseitig beeindruckende, halbwahre Geschichten über seine Heldentaten. Das entscheidende Wort traf am Tag achtzehn ein. Ein Fernschreiben aus Genf versetzte sie in Alarmbereitschaft, und ein Telegramm aus Paris war die Bestätigung. Binnen einer Stunde waren zwei Drittel des Teams unterwegs und fuhren durch schwarzen Regen gen Westen.

Kapitel 17

    Truppe nannte sich ›Heretics‹ , und die Tournee begann in Exeter mit einer Vorstellung vor einer Gemeinde, die geradenwegs aus der Kathedrale zu kommen schien: Frauen in malvenfarbener Halbtrauer, alte Priester, die dauernd drauf und dran waren, in Tränen auszubrechen. Wenn es keine Matinee gab, trieb das Ensemble sich gähnend in der Stadt herum, und abends, nach der Vorstellung, tranken sie mit ernsten Kunstjüngern Wein und aßen Käse, denn es gehörte einfach dazu, Glasperlen mit den Eingeborenen zu tauschen.
    Von Exeter waren sie nach Plymouth weitergefahren, wo sie im Marine-Stützpunkt vor völlig verwirrten jungen Offizieren spielten, die sich mit der Frage herumquälten, ob Kulissenschiebern vorübergehend der Status von Gentlemen zuerkannt und damit Zutritt zu ihrer Messe gewährt werden könne. Doch sowohl Exeter als auch Plymouth waren Stätten der Ausgelassenheit gewesen, wo es hoch hergegangen war im Vergleich zu dieser tropfnassen, granitgrauen, tief unten in Cornwall gelegenen Bergarbeiter-Stadt mit ihren engen Gassen, durch die der von See kommende Nebel wallte und wo die verkrüppelten Bäume durch den ständigen Wind alle einen Buckel hatten. Das Ensemble war in einem halben Dutzend Privatpensionen untergebracht worden. Charlie hatte das Glück, in einer vollkommen von Hortensien umstandenen Insel mit Schiefergiebeln untergekommen zu sein, wo das Geratter der nach London fahrenden Züge ihr im Bett das Gefühl gab, eine Schiffbrüchige zu sein, die durch den Anblick in der Ferne vorüberfahrender Schiffe zur Verzweiflung getrieben wurde. Als Theater diente ihnen ein in einer Sporthalle aufgeschlagenes Gerüst, von dessen knarrender Bühne man das Chlor des Schwimmbeckens riechen und durch die Wand den schmatzenden Aufprall von Squash-Bällen hören konnte. Ihr Publikum war eine Kopftuch-und-Eintopf-Brigade, deren verschwiemelte, neidische Augen verrieten, dass sie es besser machen würden als die Schauspieler, sollten sie je so tief sinken. Ihre Garderobe schließlich war ein DamenUmkleideraum, und dorthin brachte man ihr die Orchideen - gerade als sie, zehn Minuten vor dem Auftritt, dabei war, sich zu schminken.
    Zuerst erblickte sie sie in dem langen Spiegel überm Waschbecken, wie sie - bis zum Blütenansatz in feuchtes weißes Seidenpapier eingewickelt - durch die Tür hereinschwebten. Sie sah sie zögern, dann unsicher weiter auf sie zukommen. Sie jedoch fuhr fort, sich zu schminken, als hätte sie noch nie im Leben eine Orchidee gesehen. Ein Stengel, der wie ein in Papier gewickeltes Baby von einer fünfzigjährigen cornischen Vestalin namens Val mit schwarzen Zöpfen und einem flachen, von niemand bemerkten Lächeln auf dem Arm getragen wurde. Braungold.
    »Sie müssen die schöne Rosalinde sein«, sagte Val schüchtern. Ein feindseliges Schweigen breitete sich aus, und die gesamte weibliche Hälfte des Ensembles genoss Vals Bedeutungslosigkeit. Es war der Zeitpunkt, da Schauspieler am allernervösesten und in sich gekehrtesten sind.
    »Ich bin die Rosalinde«, bestätigte ihr Charlie, ohne ihr weiterzuhelfen. »Warum?« Und begann mit dem Eyeliner, um zu zeigen, dass es ihr recht gleichgültig sei, wie die Antwort ausfiel. Mit einer mutigen Geste legte Val die Orchideen in das Waschbecken und trippelte hinaus, während Charlie für alle, die sehen wollten, den Briefumschlag zur Hand nahm. Für Fräulein Rosalinde. Unenglische Handschrift, blauer Kugelschreiber statt schwarzer Tinte. Im Umschlag eine ganz und gar unenglische Visitenkarte auf Hochglanz. Der Name nicht gedruckt, sondern in spitzen, erhabenen, aber farblosen Kursiv-Großbuchstaben. ANTON MESTERBEIN, GENF. Darunter nur ein einziges Wort: Gerechtigkeit. Sonst keine Nachricht, kein »Johanna, Geist meiner Freiheit«. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf die andere Augenbraue, war

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