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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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Gerechtigkeit freisteht, sich aus den Trümmern zu erheben und durch die menschenleeren Straßen zu gehen. Plötzlich verlangte er nach ihr und erwartete, dass sie sich ihm nicht länger widersetzte.
    »Liebling«, flüsterte sie. »Khalil. Oh, Himmel. Oh, Liebling. Bitte!«
    Und was Huren sonst so sagen.
    Es wurde bereits Tag, doch sie wollte ihn nicht schlafen lassen. Im bleichen Frühlicht erfasste sie eine wache Benommenheit. Küsse und Liebkosungen - sie setzte jedes ihr bekannte Mittel ein, damit er sich nicht von ihr abwandte und seine Leidenschaft weiterbrannte. Du bist mein Bester, flüsterte sie ihm zu; dabei vergebe ich nie erste Preise. Mein stärkster, mein mutigster, mein klügster Liebhaber aller Zeiten. Ach, Khalil, Khalil, Himmel, ach, bitte! Besser als Salim? fragte er. Geduldiger als Salim, zärtlicher und dankbarer. Besser als Joseph, der mich dir auf silbernem Teller geschickt hat.
    »Was ist denn?« sagte sie, als er sich plötzlich von ihr losmachte. »Hab’ ich dir weh getan?«
    Statt einer Antwort streckte er die heile Hand aus und drückte ihr mit gebieterischer Geste leicht die Lippen zusammen. Dann richtete er sich vorsichtig auf dem Ellbogen auf. Sie lauschte zusammen mit ihm. Das Rauschen eines Wasservogels, der vom See auffliegt. Das Geschrei von Gänsen. Das Krähen eines stolzen Hahns, das Geläut einer Glocke. Die Entfernung verkürzt durch das unter einer Schneedecke liegende Land. Sie spürte, wie die Matratze neben ihr sich hob.
    »Keine Kühe«, sagte er leise vom Fenster her. Immer noch nackt, aber die Pistole am Halfter über der Schulter, stand er seitlich neben dem Fenster. Und für den Bruchteil einer Sekunde meinte sie in der übergroßen Anspannung Josephs Spiegelbild zu sehen, der ihm - vom elektrischen Feuer rot angestrahlt und nur durch den dünnen Vorhang von ihm getrennt - gegenüberstand.
    »Was siehst du?« flüsterte sie endlich, unfähig, die Spannung noch länger zu ertragen.
    »Keine Kühe. Und keine Fischer. Und keine Fahrräder. Ich sehe viel zuwenig.«
    Seine Stimme war straff vor Tatendrang. Seine Sachen lagen neben dem Bett, wo sie sie in ihrer Raserei hingeworfen hatte. Er streifte die dunkle Hose und das weiße Hemd über und schnallte sich die Pistole unter die Achsel.
    »Keine Autos, keine Lichter, die vorüberhuschen«, sagte er gelassen. »Kein einziger Arbeiter auf dem Weg zur Arbeit. Und keine Kühe.«
    »Die sind zum Melken.« Er schüttelte den Kopf. »Zum Melken gehen sie erst in zwei Stunden.«
    »Es liegt am Schnee. Sie halten sie im Stall.«
    Etwas an ihrer Stimme ließ ihn aufhorchen; dass er plötzlich hellwach war, schärfte sein Bewusstsein ihr gegenüber. »Warum entschuldigst du sie?«
    »Tu’ ich doch gar nicht. Ich versuch’ dich nur….«
    »Warum suchst du nach Entschuldigungen für das Fehlen jeglichen Lebens um dieses Haus herum?«
    »Um deine Angst zu beschwichtigen. Um dich zu beruhigen.« Ein Gedanke wurde immer mächtiger in ihm - ein schrecklicher Gedanke. Er konnte ihn in ihrem Gesicht lesen, und in ihrer Nacktheit; und sie spürte ihrerseits, wie sein Argwohn lebendig wurde.
    »Warum willst du meine Angst beschwichtigen? Warum hast du um mich mehr Angst als um dich?« »Hab’ ich ja gar nicht.«
    »Hinter dir sind sie doch her. Warum kannst du mich so lieben? Warum redest du davon, meine Angst zu beschwichtigen? Warum denkst du nicht an deine eigene Sicherheit? Was hast du auf dem Gewissen?«
    »Nichts. Es hat mir keinen Spaß gemacht, Minkel zu töten. Ich will raus aus der ganzen Sache. Khalil?«
    »Hat Tayeh doch recht? Ist mein Bruder deinetwegen gestorben? Antworte mir, bitte!« Er ließ nicht locker, blieb aber ganz, ganz ruhig. »Ich will eine Antwort.«
    Ihr ganzer Körper flehte um Gnade. Die Hitze in ihrem Gesicht war schrecklich. Sie würde für alle Ewigkeit brennen.
    »Khalil - komm wieder ins Bett«, flüsterte sie. »Lieb mich! Komm zurück!«
    Warum blieb er so gelassen, wenn sie das ganze Haus umstellt hatten? Wie brachte er es fertig, sie so anzustarren, während sich die Schlinge um ihn jede Sekunde enger zusammenzog? »Wie spät ist es?« fragte er und starrte sie immer noch an.
    »Charlie?«
    »Fünf. Halb sechs. Was spielt das für eine Rolle?«
    »Wo ist deine Uhr ? Dein kleiner Radiowecker? Ich muss wissen, wie spät es ist, bitte!«
    »Ich weiß nicht. Im Badezimmer.«
    »Bleib, wo du bist, bitte. Sonst töte ich dich vielleicht. Wir werden sehen.«
    Er holte ihn und reichte ihn ihr auf dem Bett.

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