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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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Volk ohne Land. Erst schrubbte sie sich Hände und Nägel, dann - einer Regung des Augenblicks nachgebend - zog sie sich ganz aus und duschte lange, wie um sich der Wärme des Vertrauens noch ein wenig länger zu entziehen. Sie sprühte sich mit Körperlotion ein, bediente sich aus dem Spiegelschrank über dem Waschbecken. Ihre Augen interessierten sie; sie erinnerten sie an Fatima, die Schwedin im Ausbildungslager - sie hatten beide dieselbe zornige innere Leere derer, die gelernt hatten, auf die Risiken des Mitleids zu verzichten. Genau der gleiche Selbsthass. Als sie zurückkehrte, war er dabei, das Essen aufzutragen. Kalter Braten, Käse, eine Flasche Wein. Kerzen waren bereits angezündet. Im besten europäischen Stil zog er den Stuhl für sie zurück. Sie nahm Platz; er setzte sich ihr gegenüber und fing sofort an zu essen - mit derselben natürlichen Hingabe, mit der er alles tat. Er hatte getötet, und jetzt aß er; was könnte richtiger sein? Meine verrückteste Mahlzeit, dachte sie. Die schlimmste und verrückteste, die ich je erlebt habe. Wenn jetzt ein Geiger an unseren Tisch käme, würde ich ihn bitten, Moon River zu spielen.
    »Bedauerst du immer noch, was du getan hast?« erkundigte er sich interessiert; genauso wie er hätte fragen können: »Sind deine Kopfschmerzen vorbei?«
    »Sie sind Schweine«, sagte sie und meinte es. »Erbarmungslos, mörderisch…« Wieder fing sie an zu weinen, doch diesmal fing sie sich rechtzeitig. Messer und Gabel in ihrer Hand klirrten so sehr, dass sie beide hinlegen musste. Sie hörte ein Auto vorbeifahren, oder war es ein Flugzeug? Meine Handtasche, dachte sie völlig durcheinander - wo habe ich sie liegenlassen? Im Badezimmer, weit weg von seinen neugierigen Fingern. Sie nahm die Gabel wieder in die Hand und sah Khalils schönes, ungezähmtes Gesicht, das sie über das flackernde Kerzenlicht hinweg genauso eindringlich ansah, wie Joseph es auf der Hügelkuppe bei Delphi getan hatte. »Vielleicht gibst du dir zuviel Mühe, sie zu hassen«, meinte er, um ihr zu helfen.
    Es war das schaurigste Stück, in dem sie je mitgespielt hatte, und die schlimmste Essenseinladung. Der Drang in ihr, die Spannung zu zerstören, war genauso groß wie der Drang, sich selbst zu zerstören. Sie stand auf und hörte, wie Messer und Gabel klirrend zu Boden fielen. Sie konnte ihn durch die Tränen ihrer Verzweiflung hindurch gerade noch sehen. Sie fing an, ihr Kleid aufzuknöpfen, aber ihre Hände waren so durcheinander, dass es ihr nicht gelang, sie dazu zu bringen, für sie zu arbeiten. Sie ging um den Tisch herum zu ihm, und er war schon dabei, aufzustehen, als sie ihn hochzog. Seine Arme umschlangen sie; er küsste sie, dann hob er sie hoch und trug sie wie seinen verwundeten Kameraden ins Schlafzimmer. Er legte sie aufs Bett, und plötzlich - mochte der Himmel wissen, aufgrund welcher verzweifelten Chemie ihres Geistes und ihres Körpers - war sie es, die ihn nahm. Sie war über ihm und zog ihn aus; zog ihn in sich hinein, als wäre er der letzte Mann auf Erden, am letzten Tag dieser Erde; um ihrer eigenen und um seiner Zerstörung willen. Sie verschlang ihn, saugte und stopfte ihn hinein in die schreiende Leere ihrer Schuld und ihrer Einsamkeit. Sie weinte, sie schrie ihn an, füllte ihren Verrätermund mit ihm, drehte ihn um und löschte sich und die Erinnerung an Joseph unter dem wütenden Gewicht seines Körpers aus. Sie spürte, wie er sich ergoss, hielt ihn aber trotzig noch lange, nachdem seine Bewegung aufgehört hatte, in sich fest, umklammerte ihn mit den Armen, während sie sich vor dem heraufziehenden Sturm verbarg.
    Er schlief nicht, döste aber bereits. Sein Kopf mit dem zerzausten Haar ruhte an ihrer Schulter, den heilen Arm hatte er ihr achtlos über die Brust geworfen. »Ein Glückspilz ist er gewesen, dieser Salim«, murmelte er mit einem Lächeln in der Stimme. »Ein Mädchen wie dich, dafür lohnt es sich schon zu sterben.«
    »Wer sagt denn, dass er für mich gestorben ist?«
    »Tayeh meint, das sei möglich.«
    »Salim ist für die Revolution gestorben. Die Zionisten haben sein Auto in die Luft gejagt.«
    »Er hat sich selbst in die Luft gesprengt. Wir haben viele deutsche Polizeiberichte über diesen Unfall gelesen. Ich habe ihm gesagt, er solle nie Bomben machen, aber er hat mir nicht gehorcht. Dazu hatte er kein Talent. Er war von Natur aus kein Kämpfer.«
    »Was ist das für ein Geräusch?« fragte sie und entzog sich ihm. Es war ein Prasseln, wie

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