Die lichten Reiche: Band 1: Harfe und Schwert (German Edition)
schon vor Langem gestorben und dies wären nur die letzten Überreste, die sich krampfhaft ans Leben klammerten. Und nun wusste sich auch, woran der eigenartig süße Geruch sie erinnerte: Einmal hatte sie gemeinsam mit Corus die Leiche einer Katze entdeckt. Sie musste schon wochenlang tot gewesen sein. Ihr Körper war über und über mit Fliegen und Würmern bedeckt gewesen und ihr Fleisch hatte sich, wie welkende Blätter, verfärbt. Ja, genau daran erinnerte sie der Geruch. Dawn würgte bei diesem Gedanken. Sie sollte lieber zusehen, dass sie den Anführer der Fort`mai fand. Der Geruch seines Blutes würde den unangenehmen Geruch aus ihrer Nase vertreiben.
Und Crystal spielte.
Gegen Verzweiflung und Dunkelheit spielte sie an. Seit sie zu spielen begonnen hatte, hielt sie sich an ihrem eigenen Lied fest und die Töne kamen wie von selbst zu ihr. Ein Wind war aufgekommen, ein Wind den sie gerufen hatte um den Nebel zu vertreiben. Sie merkte, dass sie leichter atmen konnte und konzentrierte sich stärker. In ihrem Kopf zeichnete sie eine Landkarte, einen Weg, den ihr Lied gehen sollte. Sie befahl dem Wind es weiter zu tragen und weiter, bis an die Grenze des Sumpfes. Wie aus weiter Ferne hörte sie das Rufen der Männer, das Grunzen der Fort`mai, den Kampflärm. Und plötzlich war da ein Widerstand. Als hätte jemand eine Decke über sie gebreitet und ihr Lied erstickt. Irgendjemand hatte nach der Dunkelheit gegriffen, stärkte sie und befahl ihr. Crystal merkte, wie Verzweiflung über ihr zusammenschlug wie eine Welle und sie ertränkte. Ihre Finger griffen immer noch in die Saiten, doch in dem Geheul, das sie in ihrem Kopf hörte, konnte sie ihr eigenes Lied nicht mehr hören. Crystal versuchte sich zu konzentrieren. Sie dachte an Lia und spürte die Perle, die an dem Band an ihrem Hals hing, deutlich auf ihrer Haut. Sie dachte an Hazel und Thyme und fragte sich, ob diese mittlerweile verheiratet war. Plötzlich hörte sie den Klang ihrer Harfe wieder und atmete erleichtert auf. Ihre Finger griffen wie von selbst in die Saiten, nahmen die Töne direkt von ihrem Herzen, ohne das Crystal sie erst denken musste.
Dann kamen die Bilder. Zuerst sah sie überdeutlich Rhys Gesicht vor sich. Er hatte die Augen geschlossen und wirkte friedlich, als würde er schlafen. Vor Freude ihn zu sehen hätte sie beinahe geweint, doch mit jedem Ton, den sie spielte wirkte er kränker und kränker. Seine Wangen verfärbten sich, wurden gräulich und blass. Seine Lippen wurden rissig und schmal, das Haar fiel ihm aus, bis er schließlich kahl war, wie der Mann, den sie auf seinem Weg in die Achtberge getroffen hatten. Immer weiter ging der Verfall, seine Haut wurde trocken und brüchig, bis sie schließlich an seiner linken Wange aufriss und Crystal durch die zerfetzte Haut hindurch seine Zähne sehen konnte. Immer noch hörte sie, wie weit entfernt, ihr Lied und lauter, ein erschrockenes Schreien, einen Schmerzenslaut, der tiefste Verzweiflung ausdrückte. Crystal begriff, dass er ihren Lippen entsprang. Immer weiter ging der Verfall ihres Bruders. Seine Lippen verschwanden, schließlich seine Augen, bis nur noch leere Höhlen zurückblieben und Crystal wusste in jedem Moment, dass sie ihn in den Tod spielte. Wenn sie aufhören würde zu spielen, müsste ihr Bruder nicht leiden. Doch Crystals Finger spielten beinahe ohne ihr Zutun weiter. Schließlich verblasste das Bild ihres Bruders. Sie widerstand der Versuchung die Harfe loszulassen um sich die Tränen von den Wangen zu wischen.
Die Stimme, die wie leises Murmeln war, war plötzlich wieder in ihrem Geist, schien sie zu verhöhnen, doch Crystal achtete nicht auf sie und spielte weiter.
Dann sah sie das Bild eines Sonnenuntergangs vor sich und lächelte. Die letzten Sonnenstrahlen tauchten Weizenfelder in sanftes Licht und sie sah einen Mann, der auf den Feldwegen in ihre Richtung kam. Crystal konnte erkennen, dass er eine Laute trug. Sie kannte den Mann nicht, doch als er näher kam sah sie, dass er noch nicht alt war. Sein helles Haar war in der Art der Mittelländer geschnitten, sein Bart war fein säuberlich gestutzt. Sie mochte den Mann. Er strahlte Intelligenz und Lebensfreude aus. Plötzlich stürzten aus den Schatten drei Gestalten auf ihn zu. Wirbelnde Dunkelheit und silberblitzende Waffen, sah sie. Und dann, den erschrockenen Gesichtsausdruck des Mannes, als er sich an die Seite griff und langsam zu Boden fiel. Crystal sah die Gestalten um die Leiche stehen und
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