Die liebe Verwandtschaft
lebte und mir das Schicksal jüdischer Katzen unerheblich erschien. Dafür lässt mich Tante Ilka büßen, indem sie jedesmal aus ihrem antiken oder zumindest antiquarischen Schmuckkästchen, das auf den Fliesen G 6 und H 8 steht, ein altes Foto von Bianca hervorholt.
»Dort, wo du jetzt sitzt«, lautet der unabwendbare Begleittext, »in diesem selben Fauteuil … dort hat sie sich immer zusammengerollt.« Der Text bleibt mir auch dann nicht erspart, wenn ich stehe. »Sie war ein wunderbares Tier. Komm, schau sie dir an.« Gehorsam komme ich näher, um mir das Foto anzuschauen. Ich sehe eine Katze mit Schnurrbarthaaren, Ohren und Schwanz. Eine Katze. Mir sind Hunde lieber.
»Sie hat dich sehr geliebt, Robert«, sagt Tante Ilka. »Mehr als sonst jemanden auf der Welt.«
Habe ich schon erwähnt, dass Tante Ilka 89 Jahre alt ist? Wenn dieses Buch erscheint, wird sie vielleicht schon 90 sein. Wirklich zu dumm, dass ich Bianca nicht gekannt habe. Und dass ich nicht Robert heiße.
Tante Ilka gehört zur Kategorie der Besuchs-Tanten. Onkel Kalman hingegen ist ein Telefon-Onkel. Er ruft mich in regelmäßigen Intervallen an und fragt, warum ich ihn nicht anrufe. Außerdem leidet er an chronischem Rheuma. Welches sich bekanntlich ganz hervorragend für lange, ausführliche Bulletins eignet. Das ist der Grund, warum ich mir ein speziell konstruiertes Telefon angeschafft habe, das ich nicht ans Ohr halten muss und beide Hände frei habe. Während Onkel Kalman sich in detaillierten Schilderungen seines Leidens ergeht, schreibe ich ein oder zwei Theaterstücke, erledige die Post, halte zwischendurch ein kleines Nickerchen und muss nur achtgeben, dass ich alle Viertelstunden eine passende Bemerkung in Richtung Hörer einwerfe, etwa: »Was du nicht sagst, Onkel Kalman!« oder: »Nein, wirklich?« Es geht ganz gut, aber es ist, alles in allem, ein wenig anstrengend.
Die Wende kam, als ich eines Tages, während Onkel Kalman am Telefon eine besonders lange Langspielplatte durchgab, für ein paar Minuten vors Haus ging, um Luft zu schöpfen und meinen Nachbar Felix Selig dabei antraf, wie er sich gerade von einem düster dreinblickenden alten Herrn verabschiedete. Sie umarmten einander wortlos, aber herzlich und gingen wortlos auseinander.
»Das war der alte Wertheimer«, erklärte mir Felix. »Ein Onkel von mir, glaube ich.«
»Stumm oder taub?«, fragte ich.
»Weder noch. Nur schweigsam. Der schweigsamste Onkel, den es jemals gab. Ich bekomme kein Wort aus ihm heraus. Er langweilt mich tödlich.«
Da überkam mich die Erleuchtung. »Hören Sie, Felix. Ich habe einen ungefähr gleichaltrigen, gut erhaltenen Onkel, der das Gegenteil von schweigsam ist. Er redet pausenlos, ohne besonderen Wert darauf zu legen, dass man ihm zuhört. Wenn man ihn nur reden lässt. Wie wär’s …?«
Felix verstand mich sofort. Wir wechselten die Onkel. Seither kommt Onkel Wertheimer einmal wöchentlich zu mir, setzt sich stumm in eine Ecke meines Arbeistzimmers und starrt eine Stunde lang zur Decke, ehe er sichtlich zufrieden geht. Dafür ruft Onkel Kalman jeden Montag meinen Freund Felix an. Das Arrangement erfreut sich der Zustimmung aller Beteiligten, einschließlich meiner Mutter. »Hauptsache, dass Kalman jemanden hat, mit dem er plaudern kann«, entschied sie.
Kein Zweifel: Die Zukunft gehört dem Verwandtentausch. Ich werde demnächst eine Anzeige aufgeben: »Tausche gepflegte alte Tante mit toter Katze gegen lebensfrohe Cousine, 20 bis 25.«
Onkel Morris und das Kolossalgemälde
Der Tag begann wie jeder andere Tag. Im Wetterbericht hieß es »wechselnd wolkig bis heiter«, die See war ruhig, alles sah ganz normal aus. Aber zu Mittag hielt plötzlich ein Lastwagen vor unserem Haus. Ihm entstieg Morris, ein angeheirateter Onkel meiner Gattin mütterlicherseits.
»Ihr seid übersiedelt, höre ich«, sagte Onkel Morris. »Ich habe euch ein Ölgemälde für die neue Wohnung mitgebracht.«
Und auf einen Wink seiner freigebigen Hand brachten zwei stämmige Träger das Geschenk angeschleppt.
Wir waren tief bewegt. Onkel Morris ist der Stolz der Familie meiner Frau, ein sagenhaft vermögender Mann von großem Einfluss in einflussreichen Kreisen. Gewiss, sein Geschenk kam ein wenig spät, aber schon die bloße Tatsache seines Besuchs war eine Ehre, die man richtig einschätzen musste.
Das Gemälde bedeckte ein Areal von vier Quadratmetern, einschließlich des gotisch-barocken Goldrahmens und stellte das jüdische Gesamterbe dar. Rechts
Weitere Kostenlose Bücher