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Der Andere

Der Andere

Titel: Der Andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian DeLeeuw
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    Erster Teil
    Ein kleines Stück Mitternacht
    1 . Kapitel
    I ch betrete den Eingangsbereich des Apartmenthauses, in dem Claire Nightingale lebt. Ich will ihr sagen, dass ich ihren einzigen Sohn umgebracht habe. Wie immer liegt der Eingangsbereich zwischen seinen Marmorwänden gedämpft und schummrig da, einem Grab ähnlich, und wie immer versehen zwei Wachmänner den Spätdienst. Derjenige, der mir die Tür öffnet, heißt Victor. Victor erkennt mich. Natürlich erkennt er mich. Schließlich arbeitet er hier schon seit Jahren. »Lassen sie dich am College verhungern?«, will er wissen. »Ich kann ja schon deine Rippen zählen, Kumpel.«
    »Hungerstreik«, antworte ich und versuche zu lächeln. Aber die Stimme entfährt mir zu laut und hallt polternd durch die Leere. Mein Mund fühlt sich immer noch neu an. Diese Lippen, diese fleischige Zunge. Ich räuspere mich, um meinen Missgriff zu überspielen, und steuere auf den Aufzug im hinteren Bereich der Eingangshalle zu. Der zweite Wachmann sieht von seiner Zeitung hoch. Unsere Blicke treffen sich, bevor er sich gleichgültig wieder seiner Lektüre zuwendet. »Miss Nightingale ist gerade zurückgekommen«, ruft Victor mir nach. »Sie wird sich freuen, dich zu sehen. Sie redet die ganze Zeit von dir.«
    Ich will ihm erklären, dass ich bereits weiß, dass sie oben ist, dass ich aus meinem Versteck auf der anderen Seite der Central Park West Avenue beobachtet habe, wie sie vor einer Viertelstunde aus dem Taxi gestiegen ist. Stattdessen winke ich ihm nur kurz zu und drücke den Fahrstuhlknopf. Stunden hatte ich auf einer Parkbank zugebracht, gewartet, dass Claire endlich von wo auch immer zurückkehrte – sei es, dass sie sich in ihrem Büro verkrochen, ein Date durchlitten hatte oder allein im Kino gewesen war –, und der Novemberkälte getrotzt. Als schließlich ein Taxi vor dem Gebäude hielt und ich sah, wie Claire ausstieg, ihre schlanke, vertraute Silhouette im Widerschein der Empfangshalle, unterdrückte ich den Drang, über die Straße zu preschen und sie gleich dort auf dem Bürgersteig zu packen. Schließlich waren da noch die Wachmänner, die Nachbarn, die Hundebesitzer, die ihre Vierbeiner ausführten, die Fremden, die zum U-Bahn-Eingang an der Ecke eilten, und die Touristen, die sich nach ihrem Besuch des Museum of Natural History verlaufen hatten. Das hier war eine rein private Angelegenheit. Und die ging niemanden etwas an.
    Von meiner Bank aus konnte ich sehen, wie sie Victor eine Ledertasche reichte, über etwas lachte, das er gesagt hatte, ihm auf die Schulter tippte. Selbst wenn sie an einem Tiefpunkt angelangt ist, ist sie immer in der Lage, sich für die Dauer kurzer Begegnungen, dieser einstudierten artigen Auftritte, zusammenzureißen. Immer anständig, immer nett.
    Vierzehn Jahre lang habe ich mit Claire und Luke, ihrem Sohn, zusammengelebt. Und ich weiß, dass es immer ein Fehler ist, einer Claire zu trauen und zu lang mit ihr herumzuhängen. Luke hat es nicht gerne zugegeben, vor sich selbst oder anderen, deshalb habe ich es ihm immer ins Gesicht gesagt: Du bist nicht dumm, nur unheilbar naiv. Während ich auf meiner Bank saß, öffnete Victor Claire die Tür und zog sie hinter ihr wieder zu. Der Central Park hinter mir fröstelte mit, kahle Zweige und spindeldürre Büsche raspelten aneinander im Wind. Ich stand auf und trampelte mit den Füßen auf den Boden, um wieder Gefühl in den Beinen zu bekommen, noch immer verblüfft über die Fragilität meines neuen Körpers.
    Das will ich aber nicht als Klage verstanden wissen. Schließlich kann ich mir jetzt eine Kaffeetasse vom Tresen nehmen und sie zum Tisch am anderen Ende des Raums bringen. Ich kann jemandem die Hand geben. Ich kann Auto fahren. Ich kann meine Handfläche in nassen Zement drücken und einen Abdruck hinterlassen. Ich habe eine Stimme, die jeder hören kann, der sie gerne hören möchte. Da bin ich, auf der Welt, im richtigen Leben, ein Körper, der sich im Raum bewegt. Und natürlich kann mich Claire nun nicht länger ignorieren. Sie hat es nie gemocht, dass Luke so viel Zeit allein mit mir verbrachte. Selbst als wir Kinder waren, hegte sie immer den Verdacht, dass unsere Freundschaft im Zeichen von etwas Dunklem und Verborgenem stand. Heute Abend aber wird sie mir zuhören müssen. Das ist der Augenblick, auf den ich so lange gewartet habe. Vierzehn Jahre! Ein Teil von mir giert danach, wie besessen auf den Aufzugknopf zu hämmern, die drei Stockwerke zu ihrem Apartment

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