Die Lieben meiner Mutter
wiedergefundener Schulfreund Matthias hatte mich zu einem Klassentreffen unserer Klasse eingeladen. Ich glaubte, mich verhört zu haben, als er mir erklärte, dass solche »Klassentreffen« einmal im Monat stattfanden. Doch, einmal im Monat, immer am gleichen Tag in der zweiten Woche! Die meisten Klassenkameraden, soweit sie nicht gestorben waren, würden immer noch in Grainau und Umgebung leben und hätten das Ritual dieser Zusammenkünfte seit Jahrzehnten beibehalten.
Ungefähr fünfzehn meiner ehemaligen Mitschüler saßen an reservierten Tischen, als ich das Gasthaus dicht unterhalb der Dorfkirche betrat. Die Mehrzahl von ihnen waren Frauen. Die Männer weißhaarig oder glatzköpfig, nur wenige von ihnen in bayrischen Lodenjacken, die Frauen diskret herausgeputzt, einige geschminkt. Wie von selber hatten sich die Frauen an den einen Tisch gesetzt, die Männer an den anderen. Als ich den Gastraum betrat, entstand einen kurzen Augenblick lang jene Stille, die unfehlbar eintritt, wenn Menschen sich begegnen, die sich Jahrzehnte nicht gesehen haben und im Gesicht des andern nach einem vertrauten Zeichen suchen. Ich hatte mir keine Illusionengemacht, dass ich beim Blick in die siebzigjährigen Gesichter auch nur einen meiner ehemaligen Klassenkameraden wiedererkennen würde. Und ich war fest entschlossen, ein solches Wiedererkennen auch nicht zu heucheln. Da rief mir ein stämmiger kleiner Herr, der an der getäfelten Holzwand saß, entgegen: Dös iss er, wie oas’m G’sicht g’rissen! Als ich mich auf den angebotenen Stuhl setzte, stellte er sich vor. Er habe ein Jahr lang mit mir auf derselben Schulbank gesessen. Wir hätten Texte auf vorgedruckten Blättern, die die Lehrerin herumreichte, vorlesen müssen. Sobald ein Schüler sich verlas, habe er das Blatt an die nächste Bank weiterreichen müssen. Wir beide seien die besten Leser in der Klasse gewesen und hätten unseren Text nie weitergeben müssen.
Ich wollte wissen, was er nach der Schule gemacht hatte. Er sei Drucker geworden, antwortete er, er habe viele Jahre in einer kleinen Firma in Garmisch gearbeitet, bis die Firma aufgeben musste.
Es stellte sich heraus, dass die meisten, die ich an diesem Abend kennenlernte, einfache Berufe gelernt hatten: Handwerker, Schreiner, Maurer, Friseuse, Sekretärin. Nur wenige hatten das Abitur gemacht, kaum einer hatte studiert. Die Schaudin-Liesl, ja die Schaudin-Liesl – die sei nach Paris gegangen und habe dort als Ärztin gearbeitet, sei aber leider durch eine Krankheit an den Rollstuhl gefesselt. Niemand wusste Genaueres oder kannte ihre Adresse.
Mir fiel auf, dass alle, bis auf eine weißhaarige Dame aus Garmisch, Bayrisch sprachen. Sicher war sie einmal blondgewesen, und vielleicht, weil sie so ausdrücklich Hochdeutsch redete, fühlte ich mich zu ihr hingezogen. Sicher hatte es sie, so wie mich und die Schaudin-Liesl, aus dem hohen Norden oder dem fernen Osten in das Zugspitzdorf verschlagen. Galt das Gesetz nach fünfundsechzig Jahren immer noch: Wer meine Mundart spricht, zu dem gehöre ich? Ich wollte wissen, wie viele von den hier Anwesenden Flüchtlingskinder waren. Ungefähr die Hälfte meiner ehemaligen Klassenkameraden erhoben prustend und lachend ihre Hände. Ob sie damals nicht alle, so wie ich, von den Einheimischen, also der anderen Hälfte an den Tischen, jämmerlich verprügelt worden waren?
Einen Augenblick lang entstand eine zweite Stille. Die greisen Flüchtlingskinder bestätigten erst zögernd, dann immer energischer meine Frage, während die inzwischen ebenfalls ergrauten Prügler die Köpfe schüttelten. So etwas sei, wenn überhaupt, nur ausnahmsweise vorgekommen, sagte einer – aber mein Banknachbar, der Drucker, wurde plötzlich ernst und protestierte heftig.
Aber er protestierte in perfektem Bayrisch. Nach einem langen Leben in Bayern sprachen auch die Flüchtlingskinder die Mundart der Einheimischen, und auch ich hätte dieses mir vertraute, aber jahrelang verhasste Idiom zweifellos mit Begeisterung gesprochen, wenn meine Familie nicht zu früh nach den Prügeleien aus Grainau weggezogen wäre. Inzwischen, ich kann es nicht recht erklären, liebe ich Bayrisch.
Matthiashatte mir den Namen einer Einheimischen genannt, die zu der Zeit, als ich dort zur Schule ging, eine junge Frau gewesen war. Sie wohnte in Rufnähe zum Haus ihrer längst ergrauten Kinder in einem kleinen Nebenhaus, das ihr Sohn für sie gebaut hatte. Ich konnte es kaum glauben, dass Maria Schuster mit ihren
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