Die Lieben meiner Mutter
Gedanken, was sie endlich einmal für sich selber nähen müsste, um sich vorzeigen zu können, vergeht ihr die Lust. Und wie soll es eigentlich zwischen ihnen beiden gehen, fragt sie Heinrich, wenn sie dort in seinemZimmer zusammenhocken – unter den Augen und Ohren der verliebten Wirtin, die Heinrichs Frau vermutlich sowieso nicht leiden kann? Was soll bitte zwischen ihnen reifen, wovon haben sie sich denn zu erzählen als von ihren Belastungen? Und da ist noch das Unglück mit ihrem letzten und liebsten Liebhaber Horst. Er – den sie jetzt nur noch bei seinem Doktortitel und Nachnamen nennt – hat ihr nach einem einfühlsamen Brief und einer langen Pause nur ein paar nichtswürdige, nichtssagende »Freund der Familie«-Sätze geschickt, eine feige, unausgesprochene Absage. Allzu lange sind auf ihre Nachfragen keine Antworten gekommen – und ach, wie vieles hat sie Horst gefragt! Er kneift, er lässt sie stehen, er spürt nicht mehr, wie nötig ihr seine Zuwendung ist. Sie kann es nun einmal nicht ändern, sie trägt ihr Herz in der Hand. Und wenn sie einen Menschen liebt, kann sie ihm nur mit allem Vertrauen entgegengehen – oder muss es ganz zurücknehmen. Sie kann eben nicht, was sie alle so gut können: ihre Gefühle stückeln, sich bescheiden, maßvoll sein. Warum hat er sie nur so nah an sein Herz genommen, wenn er sie jetzt wieder loslässt? Das musste er doch wissen, der Herr Doktor: Ob er eine solche Bindung eingehen will oder nicht. Sie konnte ja nicht wissen, wie gut ihr seine – auf den ersten Blick vorbehaltlose – Bereitschaft tun würde. Ach hätte er es doch gelassen! Nein, sie wird nicht nach Hannover kommen, sie hält es nicht aus, zu sehen, wie der Herr Doktor jeden in die Arme nimmt, der ihm entgegenkommt, und nicht weiß, nicht wissenwill, daß ein anderer krank werden kann an diesen Dingen!
Verzeih, endet sie ihre Klage, sie wolle Heinrich nicht wehtun – aber er sei nun einmal der einzige Mensch, der da sei und da bleibe. Und darum sage sie ihm alles – ihrem besten Freund! Draußen ist Frühling, der blaue Himmel, der Wind und die großen weißen Berge – dies alles tut nur weh. Ach könnte Heinrich jetzt doch bei ihr sein! Ach könnte sie doch in seinen Armen weinen!
In den nächsten Tagen schöpft sie wieder Hoffnung. Ihr Mann, der Geduldige, immer Hilfsbereite, hat sie angerufen und ihr mit der Wärme und Nähe seiner Stimme wieder Leben eingehaucht. Er hat inzwischen auch mit ihrem letzten Liebhaber Horst gesprochen: Die Spannung zwischen Horst und ihr, richtet der treue Heinrich aus, habe keineswegs nachgelassen, Horst sei im Augenblick lediglich mit Arbeit überlastet.
Sie dankt ihrem Mann für diese Botschaft, mag sie allerdings nicht glauben. Sie brauche nur Horsts erste Briefe mit dem letzten zu vergleichen, dann wisse sie Bescheid. Dass seine Abwendung sich in ihrer augenblicklichen Verwundbarkeit viel stärker auswirke, als er wohl ahne, könne sie ihm nicht vorwerfen. Jedenfalls sei keine Hilfe da, wenn sie am nötigsten wäre, und sie sehe sich auch nicht mehr danach um.
Sie entschuldigt sich für ihre Erschöpfung, die ihr die Erinnerung an Heinrich, an ihre Kinder, an ihre frühere Identität manchmal völlig auslösche. Es sei ihr schrecklich,zu sehen, wie ihr Versagen die ganze Familie belaste. Wenn ein solcher Zustand der Erschöpfung von ihr Besitz ergriffen habe, erklärt sie Heinrich, falle sie ins Uferlose, in Apathie. Essen geht nicht mehr, Schlafen geht nicht mehr, sie kann die Kinder nur noch mit ein paar Mark zum Gasthaus Höhenrain schicken, damit sie sich den Magen mit gekochten Möhren und Kartoffeln füllen.
Regenwolken hängen vor dem Fenster, die Umrisse der großen Birke vor dem Haus lassen sich nur noch erahnen, der Gartenzaun ein paar Meter weiter unten ist im Nebel verschwunden. Das dunkle, mühsame Haus ist ein Gefängnis und verkündet ihr jeden Tag aufs Neue ihre Strafe – das schmähliche Los aller Frauen, die mit ihren Kindern den Krieg überlebt haben: Nähen, Stopfen, Kochen, Saubermachen. Selbst ihr Zweitjüngster, der immer um sie ist und juchzt und singt, mit dem sie noch am besten zurechtkommt, weil er sensibel ist und auf ihre Mittel anspricht , hat schlechte Laune. Er vertrage das schlechte Wetter nicht, behauptet er. Das Übermaß der grauen Tage sei so groß, dass alles andere verschwimme und sich auflöse in diesem Nebel.
Aber nun hat sie sich entschlossen: Sie will doch noch nach Hannover kommen. Denkst du bitte an das
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