Die Lieben meiner Mutter
blaue Leinenkostüm, das unbedingt nachgefärbt werden muß? Und bitte auch gleich den seidenen Schal rot auffärben! Sie will die neuen Schuhe – eine Gabe aus Amerika, die Johanna Hirth eigentlich Hanna geschenkt hat – in Hannover tragen, denndie passen ihr und sind viel zu groß und auch zu schön für so ein Gör. Aber vorher muss sie noch etwas für die vier Geburtstage der Kinder im April zurechtmurksen. Mit den Kindern, schreibt sie, hat sie viel Ärger, sie seien undiszipliniert und liederlich. Ihr fehlten die Kräfte, sie jeden Tag dreimal zu ohrfeigen – was aber nötig wäre! Freude an den Kindern habe sie immer erst, wenn sie sie mal einen Tag lang los sei. Bin auch oft recht ekelhaft zu ihnen, rege mich schnell auf oder rede gar nicht, könnte mich selber ohrfeigen! Es ist ein Scheiß-Jahrhundert und für die Frauen Sklavenarbeit – nichts Anderes!
Die Kinder, die viel geliebten und doch viel zu vielen, sie gehorchen ihr nicht mehr. Zu oft schreit sie sie an, ohrfeigt und prügelt sie, nimmt sie dann wieder in die Arme und flüstert ihnen Liebesworte zu.
25
Ich war völlig überrascht, als Gisela Deus mir kurz vor dem Ende ihrer Entzifferungsarbeit einen Brief der Mutter zeigte, der meine Erinnerung an meine letzte Begegnung mit der Mutter erst einmal über den Haufen warf. Darin schildert sie in aller Ausführlichkeit ein Drama, von dem ich geschworen hätte, dass es mir – und mir allein! – zugestoßen sei. Aber die Protagonisten dieses Dramas sind meine beiden älteren Geschwister. Ich komme darin gar nicht vor.
Erinnerungen arbeiten offenbar mit verblüffender Einseitigkeit für ihren Herrn – für den, der sich erinnert. Das größere Unheil ist immer das, das einem selber widerfahren ist. Was man nur gehört, aber nicht erlebt hat, wird von der selbstsüchtigen Erinnerung nach und nach gelöscht.
Abends. Was soll das nur werden? Seit 2 Std. warte ich auf die Kinder Rainer und Hanna. Es ist ½ 10 Uhr, stockdunkel, und sie sind noch nicht da. Sie gingen mit Willi fort, angeblich in den Zigeunerwald, ca. 6 Uhr. Eben frage ich Herrn ..., der mir sagt, Willi ist nach Garmisch ins Eisstadion – käme ½ 11 Uhr zurück. Da werden nun wohl unsere beiden mit sein. Was soll ich nur machen? Rege mich derart auf, daß ich am ganzen Leib zittere.Sie sind obstinat und machen, was sie wollen. Du siehst es ja. Der Willi ist ein Miststück und wirkt völlig demoralisierend auf die Kinder. Ich bin diesen Dingen nicht mehr gewachsen, in gar keiner Hinsicht. Temperatur und Schmerzen an der rechten Niere. Am liebsten würde ich den Haushalt hier auflösen, nur Paul behalten ...
Es ist ¾ 10 – die Kinder sind noch nicht da. Was soll ich nur machen. Bin viel zu fertig, um sie noch zu schlagen. Werde sie erst mal hungrig ins Bett schicken und Willi das Haus verbieten.
Nachts ½ 12 Uhr. Reizende Situation: Ich warte auf die Kinder, die noch nicht da sind. Tilla lacht und kreischt drüben bei Fröhlichs mit Schnaps und Kaffee. Ich habe das Gefühl, ich werde wahnsinnig. Könnte manchmal den Kindern und mir etwas antun ...
Jetzt, 12 Uhr, sind sie gekommen. Ich habe sie beide furchtbar mit dem Drahtausklopfer verdroschen, ging dann mit 2 Schlaftabletten ins Bett und bin heute entsprechend fertig. Laß sie heut’ oben im Zimmer und hungern. Ich finde, man muß so etwas ganz exemplarisch strafen, sonst passiert’s nächste Woche wieder. Denn Angst haben sie offenbar nicht vor mir. Wenn ich nur mal alle Kinder ein halbes Jahr los wäre, um wieder richtig Kräfte zu sammeln!
Wie hatte Willi es vermocht, Hanna und den großen Bruder in das Eisstadion zu locken? Hanna hatte mich gewarnt: Seit dem vergeblichen Warten auf den Engel – nach ihrer nächtelangen Arbeit an den Stutzen – traue sie Willi nicht mehr. Und der damals vierzehnjährige Bruder? Warum war er, ohne der Mutter ein Wort zu sagen, auf den Vorschlag zu der Exkursion mit Willieingegangen? Und schließlich Willis Vater, den die Mutter in ihrer Not angerufen hatte – machte er sich keine Sorgen über die nächtlichen Abenteuer seines Sohnes?
Gisela Deus hatte den unleserlichen Nachnamen von Willis Vater, der in den Briefen zum ersten Mal auftaucht, in ihrer Umschrift mit einer Leerstelle bezeichnet; der Vergleich mit dem Original ergab, dass es sich um einen zweisilbigen Namen handelte.
In einem ihrer letzten Briefe beantwortet die Mutter eine Frage, die Heinrich wohl lange in sich getragen, aber vorher nie gestellt hat. Er habe das Gefühl,
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