Die Liebenden von Leningrad
setzte sich auf das Sofa neben Deda. Sie legte ihre große Hand auf seine und nickte mit geschürzten Lippen. Durch diese Geste wurde Tatiana klar, dass Babuschka Dinge wusste, die sie lieber für sich behielt. Auch Deda wusste davon. Doch für Tatiana war das nicht von Belang. Das ist schon in Ordnung, dachte sie. Sie verstehen nicht. Sie sind nicht mehr jung.
Mama brach das Schweigen. »Was willst du tun, Georgi Wassiliewitsch?«
»Wir haben zu viele Kinder, Irina Fedorowna. Zu viele Kinder, um die man sich Sorgen machen muss«, erwiderte er trübsinnig und mühte sich mit Paschas Koffer ab.
»Ach, tatsächlich, Papa?«, sagte Tatiana. »Über welches deiner Kinder möchtest du dir denn lieber keine Sorgen machen?« Papa antwortete nicht, sondern zog Paschas Schublade im Schrank auf, in dem sie alle ihre Sachen aufbewahrten. Er begann, die Kleider des Jungen in den Koffer zu packen. »Ich schicke ihn weg, Irina. Ich schicke ihn in das Ferienlager in Dohotino bei Tolmachewo. Er sollte ja sowieso nächste Woche mit Wolodja Iglenko dorthin fahren. Jetzt fährt er eben ein bisschen früher. Wolodja fährt mit ihm. Nina wird froh sein, wenn sie ihn eine Woche früher loswird. Du wirst schon sehen, alles wird gut.«
Mama wiegte nachdenklich den Kopf. »Tolmachewo? Glaubst du, dass er dort in Sicherheit ist?« »Absolut«, sagte Papa.
»Absolut nicht«, warf Pascha ein. »Papa, der Krieg ist ausgebrochen. Ich fahre nicht ins Ferienlager. Ich melde mich freiwillig.«
Gut, Pascha, dachte Tatiana, aber Papa fuhr herum und funkelte seinen Sohn finster an. Tatiana hielt die Luft an und plötzlich verstand sie alles.
Papa packte Pascha an den Schultern und schüttelte ihn. »Was sagst du da? Bist du verrückt? Freiwillig melden?«
Pascha versuchte, sich aus seinem Griff zu lösen, aber Papa hielt ihn fest.
»Papa, lass mich los!«
»Pavel, du bist mein Sohn und du wirst mir zuhören. Zuerst wirst du aus Leningrad verschwinden, und dann reden wir darüber, ob du dich meldest. Aber jetzt müssen wir den Zug bekommen. «
Diese Auseinandersetzung in dem kleinen Zimmer, in dem sich so viele Menschen aufhielten, war Tatiana unangenehm. Sie versuchte wegzuschauen, aber das war nicht möglich. Ihr gegenüber saßen ihre Großeltern, hinter ihr war Dascha, neben ihr standen ihre Eltern und ihr Bruder. Sie blickte auf ihre Hände und schloss die Augen. Dabei stellte sie sich vor, sie läge ganz allein auf einer Sommerwiese und äße süßen Klee. Wie hatte sich nur alles innerhalb von Sekunden ändern können?
Blinzelnd öffnete sie die Augen. Eine Sekunde. Sie blinzelte noch einmal. Noch eine Sekunde.
Noch vor Sekunden hatte sie geschlafen.
Vor Sekunden hatte Molotow gesprochen.
Vor Sekunden war sie noch fröhlich gewesen.
Vor Sekunden hatte Papa gesprochen.
Und jetzt ging Pascha.
Deda und Babuschka schwiegen diplomatisch, wie immer. Deda zog es generell vor zu schweigen. Babuschka war diesbezüglich ganz anders, aber in diesem besonderen Moment hatte sie offensichtlich beschlossen, seinem Beispiel zu folgen. Vielleicht lag es auch daran, dass Deda jedes Mal fest ihr Bein drückte, wenn sie den Mund öffnete, um etwas zu sagen. Dascha, die keine Angst vor ihrem Vater hatte und von der Aussicht auf Krieg gar nicht beunruhigt war, sagte: »Papa, das ist doch verrückt. Warum schickst du ihn weg? Die Deutschen sind doch überhaupt nicht in Leningrad. Du hast doch gehört, was Genosse Molotow gesagt hat. Sie sind auf der Krim. Das ist Tausende von Kilometern weit weg.« »Sei still, Daschenka«, erwiderte Papa. »Du hast keine Ahnung von den Deutschen.«
»Sie sind nicht in Leningrad, Papa«, wiederholte Dascha mit ihrer kräftigen Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Tatiana wünschte, sie könnte auch mit solchem Nachdruck reden wie Dascha.
»Daria! Ich werde mit dir nicht darüber streiten!«, rief Papa aus. »Dein Bruder bleibt nicht in Leningrad. Pascha, zieh dich an. Nimm eine Hose und ein hübsches Hemd.« »Papa, bitte.«
»Pascha! Ich sagte, zieh dich an. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Ich garantiere dir, dass diese Ferienlager in einer Stunde völlig überfüllt sein werden, und dann kriege ich dich nicht mehr untergebracht.«
Vielleicht war es ein Fehler von Papa gewesen, Pascha von seiner Befürchtung zu erzählen, denn Tatiana hatte ihren Bruder noch nie so langsam gesehen. Er brauchte über zehn Minuten, bis er sein einziges Hemd fand. Sie wandten alle die Blicke ab, als er sich anzog. Tatiana
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