GayLe Stories, Band 2: Nathanael
Nathanael
2001
„Oh, Hallo, Ihr seid´s. Das ist ja schön. Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie ich mich freue, Euch zu sehen. Es ist so langweilig hier, ich freue mich über jeden Besuch. Kommt doch rein und setzt Euch!“
Die Besucher blickten mich an, als hätten sie einen Geist gesehen. Sie bewegten sich nicht von der Stelle, schienen angewurzelt zu sein.
„Aber ich bitte Euch, traut Euch doch, kommt herein!“
Wie mechanisch begann einer der Gruppe, ein Bein vor das andere zu setzen, in Richtung einer der Stühle. Als wären sie ferngesteuert, folgten ihm die anderen vier nach. Ihre Taschenlampen brannten immer noch, die Gesichtszüge zeigten eine unendliche Furcht. Ich muß sie wohl sehr erschreckt haben. Dabei gehe ich mal davon aus, daß ich gar nicht so furchterregend aussehe. Ich habe mich schon lange nicht mehr im Spiegel gesehen, es geht auch schlecht, die Spiegel in meinem Haus sind alle auf eigenartige Weise erblindet.
Ich habe Zeit. Ich mußte die Besucher nicht zur Eile antreiben, ich konnte warten, bis sie sich von ihrem Schrecken erholt hatten.
„Oh, ´tschuldigung, junger Mann! Nehmen Sie nicht diesen Stuhl, der ist schon ein bißchen morsch, ich möchte nicht, daß Sie beim Hinsetzen plötzlich auf dem Fußboden landen.“ Ich lachte mein hallendes, einsames Lachen und hatte den Eindruck, daß sich bei meinen Gästen die Haare aufstellten, sofern sie noch welche hatten. Dies traf nur auf vier von Ihnen zu.
Der Angesprochene wich dem defekten Stuhl aus und tastete rückwärts mit den Händen nach einem anderen, er konnte einfach den Blick nicht von mir lassen.
Endlich saßen sie.
„Na also, ist doch gar nicht so schwer. Noch einmal: Herzlich willkommen in meinem Haus, mein Name ist Nathanael, kurz Nathan oder noch kürzer Nat. Sie dürfen mich nennen, wie Sie mögen.“
Der angesprochene Junge fand als erster die Sprache wieder und sagte mit seltsam heiser-belegter Stimme: „Hallo Nat!“
Dies schien auch die ganze andere Gruppe aus ihrer eigentümlichen Starre zu erlösen, sie setzten sich und machten dabei den Eindruck, als seien Sie viele Meilen gelaufen und nun vollkommen erschöpft.
„Es tut mir ja so leid, daß ich Sie nicht erwartet habe. Ich hätte zu gerne für Sie ein paar Getränke oder Erfrischungen bereit gestellt, wenn es mir auch etwas schwer fällt, so etwas zu tun.“
„Sie sind krank?“ hatte die Frau ihre Sprache wieder gefunden.
„Ja, gnädige Frau, ich glaube, das könnte man so sagen. Obwohl, eigentlich ist es nicht richtig. Ich bin nicht krank, ich bin tot.“
Die Tochter schrie auf und kippte in Ohnmacht. Wie empfindlich die Leute immer sind, wenn man sie auf die natürlichsten Dinge des Lebens anspricht. Der ältere der drei Männer, der ohne Haare, sprang auf und fächelte der Tochter Luft zu. Dabei blickte er mich erbost an.
„Wie können Sie meine Tochter so erschrecken mit einer solchen Horror-Aussage. Nun gut, Sie sehen nicht gerade gesund aus, aber Tote sind nun mal tot und erschrecken nicht arme Wanderer. Sie machen nur einen schlechten Scherz mit uns!“
Ich lächelte. „Oh nein, Sir, ich glaube, Sie irren sich. So tot, wie ich bin, kann kaum einer sein. Nur wurde ich an dieses Haus gebunden und muß seit dem hier leben. Ob ich will oder nicht.“
Die Tochter war mittlerweile wieder zu sich gekommen und die ganze Gruppe kümmerte sich um sie. Sie war sehr blaß, sah ein bißchen aus, wie die Spinnweben, die in meinem Zimmer hingen.
Die Gruppe war mit sich selbst beschäftigt, so hatte ich endlich Gelegenheit, mir die einzelnen Mitglieder genauer anzusehen.
Es muß zweifelsohne eine Familie gewesen sein. Vater, der ohne Haare, Mutter, die sich nach meiner Gesundheit erkundigt hatte, die nicht mehr ohnmächtige Tochter und zwei Söhne. Die Kinder schätzte ich auf irgendwas zwischen 13 und 18 Jahren, aber so gut bin ich nicht mehr im Schätzen, ich habe zu wenig Gelegenheit dazu.
Dem Aussehen nach stammte die Familie nicht aus der Gegend, hier im Süden der USA. Wobei „Gegend“ vielleicht für dieses Fleckchen Erde schon zu viel ist, es ist ein Stück Landschaft mit Langeweile und sonst nichts. Und diesem alten Farmhaus, im den ich lebe – Verzeihung, gestorben bin. Oder wie soll ich es ausdrücken? Ich habe ja selbst kaum Worte dafür.
„Ich möchte weg von hier“, flüsterte die Tochter zu Ihren Eltern. Ich hatte schon immer gute Ohren, daran hat auch mein Tod nichts geändert. Als habe es das
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