Die Liebenden von Leningrad
Mädchen neben ihr klebte die Schachteln zu. Sie tat Tatiana Leid, das Zukleben war wirklich langweilig, während sie doch zumindest mit drei verschiedenen Dingen umgehen musste.
Die Arbeit bei Kirow den ganzen Sommer über würde Spaß machen, dachte Tatiana, als sie auf ihrem Bett lag, allerdings nicht so viel Spaß wie eine Evakuierung. Sie hätte jetzt gern ein paar Stunden gelesen. Sonst war sie nie allein zu Hause. Sie hatte gerade mit Michail Sostschenkos lustigen Kurzgeschichten über die ironische Realität des sowjetischen Lebens begonnen, aber die Anweisungen ihres Vaters waren sehr deutlich gewesen. Sehnsüchtig blickte sie auf ihr Buch. Was sollte die ganze Eile? Die Erwachsenen benahmen sich, als sei Feuer ausgebrochen. Die Deutschen waren doch noch zweitausend Kilometer weit entfernt. Genosse Stalin würde nicht zulassen, dass dieser Verräter Hitler tiefer ins Land eindränge.
Als ihr klar geworden war, dass die Evakuierung nicht unmittelbar bevorstand, fand sie den Gedanken an den Krieg schon weit weniger spannend. Aber Sostschenkos Geschichte »Ban-ya« - Das Badehaus - über einen Mann, der in ein sowjetisches Badehaus ging, dort auch seine Kleider wusch und dabei die Garderobenmarke für seinen Mantel verlor, war dagegen lustig. Wo soll ein nackter Mann die Garderobenmarke aufbewahren? Während des Bades wurde sie weggespült, und nur der Aufhänger blieb übrig. Der Mann gab ihn an der Garderobe ab. Der Garderobenwächter dort nahm sie nicht an. Jeder Genosse kann einen Aufhänger abschneiden, sagte er. Hier hängen nicht so viele Mäntel. Warte, bis die anderen Badegäste gegangen sind, dann gebe ich dir den Mantel, der übrig geblieben ist.
Da sie zunächst offenbar nicht evakuiert wurden, las Tatiana die Geschichte zweimal. Sie lag auf dem Bett, stützte sich mit den Beinen an der Wand ab und lachte sich auch beim zweiten Mal noch kaputt.
Aber ein Auftrag war ein Auftrag. Sie musste endlich einkaufen gehen.
Heute war Sonntag, und sonntags ging Tatiana ungern hinaus, ohne sich fein gemacht zu haben. Sie lieh sich einfach Daschas hochhackige rote Sandalen aus, in denen sie umherstakste wie ein neugeborenes Kalb mit zwei gebrochenen Beinen. Dascha konnte besser darin laufen, sie war viel mehr daran gewöhnt. Tatiana bürstete ihr langes, blondes Haar, wobei sie sich wieder einmal wünschte, so dicke, dunkle Locken wie der Rest der Familie zu haben. Ihr Haar war gerade und langweilig blond. Sie trug es immer entweder zu einem Pferdeschwanz oder zu zwei Zöpfen geflochten. Heute band sie es zu einem Pferdeschwanz zusammen.
Tatiana zog das einzige Sonntagskleid an, das sie besaß, vergewisserte sich, dass ihr Gesicht, ihre Zähne und Hände vor Sauberkeit blitzten, und verließ die Wohnung. Hundertfünfzig Rubel waren eine gewaltige Summe. Tatiana wusste nicht, woher ihr Vater das Geld hatte, aber es war auch nicht ihre Sache, ihn danach zu fragen. Sie sollte nur zurückkommen mit - was hatte ihr Vater gesagt? Reis? Wodka? Sie hatte es schon wieder vergessen.
Mama hatte ihm noch gesagt, er solle sie nicht schicken, weil sie nichts behalten konnte. Und Tatiana hatte zustimmend genickt. »Sie hat Recht, Papa. Schick lieber Dascha.« »Nein!«, hatte Papa ausgerufen. »Ich weiß, dass du es kannst. Nimm eine Tasche mit, geh einfach in den Laden und komm zurück mit...«
Was hatte er noch gesagt? Kartoffeln? Mehl? Tatiana ging am Zimmer der Sarkows vorbei und sah Zhanna und Zhenya Sarkow in Sesseln sitzen, Tee trinken und lesen. Sie wirkten so entspannt, als sei ein ganz normaler Sonntag. Was sie doch für ein Glück haben, dachte Tatiana, dass sie so ein großes Zimmer für sich ganz allein besitzen. Der verrückte Slawin war nicht im Flur. Zum Glück.
Es war fast so, als sei Molotows Rede vor zwei Stunden nur eine geringe Irritation an einem ansonsten normalen Tag gewesen. Tatiana zweifelte beinahe schon daran, dass sie den Genossen Molotow richtig verstanden hatte, bis sie auf die Straße kam und beim Grecheskij Prospekt um die Ecke bog. Eine Traube von Menschen bewegte sich in Richtung des Newskij Prospekts, der Hauptgeschäftsstraße von Leningrad. Tatiana konnte sich nicht erinnern, jemals solche Menschenmassen auf Leningrads Straßen gesehen zu haben. Rasch drehte sie sich um und ging in die andere Richtung zum Suworowskij Prospekt, um der Menge ein Schnippchen zu schlagen. Wenn alle zu den Geschäften am Newskij Prospekt liefen, dann würde sie eben in den Läden am Taurischen Garten
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