Die Liebenden von Leningrad
Zucker, Kaffee, Tabak und Wodka gekauft. Mit diesen Dingen hatte er jedoch weniger Glück: Zu jedem Geburtstag, Jahrestag und zum ersten Mai wurde der Wodka leer getrunken, der Tabak geraucht, der Kaffee getrunken und der Zucker für Brot, Kuchenteig und Tee verwendet. Deda brachte es nicht übers Herz, seiner Familie etwas zu verweigern, sich selbst dagegen gönnte er nichts mehr. So weigerte er sich sogar an seinem eigenen Geburtstag, die Wodkaflasche zu öffnen. Babuschka allerdings verbrauchte immerhin den Zucker, um ihm Blaubeerkuchen zu backen.. Der einzige Vorrat, der jeden Monat um ein oder zwei Dosen wuchs, war der Schinken, den keiner mochte.
Glücklicherweise war Tatiana inzwischen eingefallen, was sie einkaufen sollte: so viel Reis und Wodka wie möglich. Das stellte sich jedoch als äußerst schwierig heraus. In den Läden auf dem Suworowskij gab es keinen Wodka mehr. Dort gab es nur Käse. Aber Käse hielt sich nicht besonders gut. Brot gab es ebenfalls, aber Brot verdarb auch zu schnell. Salami war ausverkauft, genauso wie sämtliche Konserven. Und Mehl gab es auch nicht.
Immer schneller ging Tatiana den Suworowskij hinunter, insgesamt elf Blocks entlang, das war über einen Kilometer, aber in keinem Laden gab es haltbare Lebensmittel. Dabei war es erst drei Uhr. Tatiana kam an zwei Banken vorbei. Beide waren nicht geöffnet. Auf hastig mit der Hand gekritzelten Schildern stand Heute geschlossen. Das überraschte sie. Warum hatten die Banken zu? Geld konnte doch in Banken nicht ausgehen. Tatiana war mittlerweile klar geworden, dass sie zu lange gewartet hatten. Sie hätten sofort einkaufen gehen müssen, stattdessen hatten sie zuerst Paschas Koffer fürs Sommerlager gepackt. Und Tatiana hatte sogar noch gelesen. Sie hätte eine Stunde früher aufbrechen müssen. Wenn sie doch nur zum Newskij Prospekt gegangen wäre, dann würde sie jetzt dort in der Schlange stehen!
Obwohl es aussichtslos war, auch nur eine Schachtel Streichhölzer aufzutreiben, genoss Tatiana die warme Sommerluft. Sie schien von lauter schönen Dingen erfüllt zu sein. Ob ich mich wohl immer an diesen Tag erinnern werde?, dachte Tatiana und atmete tief ein. Früher hatte sie sich oft gesagt, dass sie diesen oder jenen Tag nie vergessen werde, aber schließlich hatte sie doch alle vergessen. Ich werde mich immer daran erinnern, wie ich meine erste Kaulquappe gesehen habe. Wie ich im Schwarzen Meer zum ersten Mal Salzwasser geschluckt habe. Ich werde mich daran erinnern, wie ich mich zum ersten Mal im Wald verirrt habe.
Ich habe noch nie einen echten Krieg erlebt, dachte Tatiana jetzt. Daran werde ich mich gewiss erinnern. Sie lief zu den Geschäften am Taurischen Garten. Sie mochte diesen Teil der Stadt, der etwas abseits vom geschäftigen Treiben auf dem Newskij Prospekt lag. Hier waren die Bäume hoch und üppig und es gab weniger Menschen. Tatiana gefiel die Einsamkeit.
Nachdem sie in drei oder vier Lebensmittelgeschäfte hineingeschaut hatte, hätte Tatiana am liebsten aufgegeben. Sie überlegte ernsthaft, ob sie nicht nach Hause gehen und ihrem Vater sagen sollte, dass sie nichts bekommen hatte. Aber allein der Gedanke daran machte ihr Angst. Also ging sie weiter. Vor dem Laden an der nächsten Ecke wartete eine lange Schlange von Menschen auf der sonst leeren Straße. Pflichtbewusst stellte sich Tatiana hinten an.
Das Warten schien stundenlang zu dauern. Sie trat von einem Fuß auf den anderen, fragte nach der Zeit, wartete weiter. Die Schlange bewegte sich um einen Meter. Seufzend fragte Tatiana die Frau vor sich, weshalb sie eigentlich anstanden. Die Frau zuckte unwillig mit den Schultern und drehte sich von Tatiana weg. »Weshalb schon«, grummelte sie und drückte ihre Einkaufstasche fester an sich, als ob Tatiana sie berauben wollte. »Stell dich einfach an, wie jeder andere auch, und stell keine dummen Fragen.«
Tatiana wartete. Die Schlange bewegte sich um einen weiteren Meter nach vorn. Sie fragte noch einmal nach der Uhrzeit. »Zehn Minuten später als eben«, bellte die Frau. Tatiana horchte auf, als eine junge Frau, die vor der mürrischen Dame stand, das Wort »Bank« aussprach. »Es gibt kein Geld mehr«, sagte die junge Frau zu einer älteren Frau, die neben ihr stand. »Wussten Sie das? Die Banken haben nichts mehr. Ich weiß nicht, was die jetzt machen wollen. Ich hoffe, Sie haben wenigstens Geld in der Matratze.« Die ältere Frau schüttelte besorgt den Kopf. »Ich habe nur zweihundert Rubel, das sind all
Weitere Kostenlose Bücher