Die Liebenden von Leningrad
einkaufen. Ein Mann und eine Frau gingen vorbei, musterten Tatiana und lächelten. Sie schlug die Augen nieder, lächelte aber ebenfalls. Tatiana trug ihr prächtiges weißes Kleid mit roten Rosen. Sie besaß es seit 1938, als sie vierzehn geworden war. Ihr Vater hatte es bei einem Markthändler in Polen gekauft. Er war dort auf einer Geschäftsreise für die Leningrader Wasserwerke .gewesen und hatte sich in Warschau und Lublin aufgehalten. Tatiana hatte ihren Vater damals für einen Weltreisenden gehalten. Dascha und Mama hatte er Schokolade aus Warschau mitgebracht. Die war natürlich längst schon aufgegessen, während Tatiana ihr Kleid aus dicker, schneeweißer Baumwolle mit den roten, aufgestickten Rosen immer noch trug. Die Rosen waren voll aufgeblüht. Es war ein perfektes Sommerkleid, ohne Ärmel, mit dünnen Schulterträgern. Um die Taille saß es eng und es hatte einen weiten, fließenden Rock, der kurz über dem Knie endete. Wenn Tatiana sich schnell um die eigene Achse drehte, bauschte sich der Rock auf wie ein Fallschirm. Das einzige Problem war nur, dass ihr das Kleid im Juni 1941 zu klein geworden war. Die gekreuzten Satinbänder auf dem Rücken, die Tatiana früher ganz fest zuziehen konnte, musste sie nun immer weiter stellen.
Es ärgerte Tatiana, dass sie langsam aus ihrem Lieblingskleid herauswuchs. Ihr Körper war zwar schlank geblieben, aber ihre Brüste waren größer geworden und da lag das Problem. Tatiana liebte das Kleid, sie mochte das Gefühl der Baumwolle auf ihrer Haut und der gestickten Rosen unter ihren Fingern, aber es gefiel ihr natürlich nicht, dass es mittlerweile so eng saß, dass es ihr beinahe die Luft abschnürte. Sie zehrte immer noch von der Erinnerung an den Sonntag, als sie das Kleid als dünne Vierzehnjährige zum ersten Mal getragen hatte, und aufgrund dieser Erinnerung hatte sie es jetzt auch wieder angezogen,, an dem Tag, als die Deutschen in die Sowjetunion einmarschierten.
Tatiana liebte das Kleid auch aus einem anderen Grund: Auf einem kleinen Schildchen stand Fabrique en France. Fabrique en France! Es war ein beglückendes Gefühl, etwas zu besitzen, das nicht in schlechter Qualität in der Sowjetunion hergestellt worden war, sondern das in Frankreich hervorragend gearbeitet worden war. Wer war schon romantischer als die Franzosen? Die Franzosen waren die Meister der Liebe. Alle Nationen hatten unterschiedliche Eigenschaften. Die Russen waren großartig im Leiden, die Engländer in ihrer Zurückhaltung, die Amerikaner in ihrer Lebenslust, die Italiener in ihrer Liebe zu Christus und die Franzosen in ihrer Hoffnung auf die Liebe. Und deshalb steckte Tatianas Kleid voller süßer Verheißungen. Die Franzosen hatten es gemacht, um ihr zu sagen: Zieh es an, cherie, in diesem Kleid wirst du geliebt werden. Zieh es an und die Liebe gehört dir.
In diesem Moment jedoch ging Tatiana eingezwängt in ihr enges Kleid den Suworoskij hinunter.
Es war ein warmer Tag und plötzlich kam ihr zu Bewusstsein, dass an diesem sonnigen, schönen, verheißungsvollen Tag Hitler in die Sowjetunion einmarschiert war. Kopfschüttelnd ging Tatiana weiter. Deda hatte diesem Hitler nie vertraut und hatte das auch von Anfang an gesagt. Als Genosse Stalin 1939 den Nichtangriffspakt mit Hitler unterzeichnet hatte, hatte Deda gemeint, dass Stalin sich mit dem Teufel einlasse. Und jetzt hatte der Teufel Stalin betrogen. Warum fanden das alle so überraschend? Hatten sie etwa erwartet, dass sich der Teufel ehrenhaft verhalten würde?
Tatiana hielt Deda für den klügsten Mann der Welt. Seit Hitler 1939 in Polen einmarschiert war, hatte Deda behauptet, er würde auch in die Sowjetunion kommen. Vor ein paar Monaten, im Frühling, hatte er plötzlich damit begonnen, Lebensmittel in Dosen mit nach Hause zu bringen. Zu viele Dosen für Babuschkas Geschmack. Sie sah es nicht ein, einen Teil von Dedas Monatseinkommen für etwas auszugeben, das nur eventuell gebraucht wurde. Sie hatte mit ihm geschimpft. Was redest du da über Krieg?, hatte sie gefragt und finster auf den Schinken in der Dose geblickt. Wer soll das alles jemals essen? Ich bringe dieses Zeug jedenfalls nicht hinunter. Warum gibst du dein gutes Geld für diesen Müll aus? Kauf doch lieber marinierte Pilze oder Tomaten. Und Deda, der Babuschka mehr liebte als alles auf der Welt, hatte nur demütig den Kopf gesenkt und nichts erwidert. Im Monat darauf jedoch hatte er noch mehr Dosen mit Schinken mit nach Hause gebracht. Er hatte auch
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