Die Liebenden von Sotschi
man wohl sagen!« Sie kam zurück, packte Boris' Maulesel am Zügel und führte ihn zu ihm. »Sitzen Sie auf!« befahl sie. »Oder erwarten Sie, daß ich Sie bis zum Teehaus trage?«
»Wo wohnen Sie in Sotschi?« fragte Boris. Er zog sich mühsam hoch, knirschte melodramatisch mit den Zähnen und stieß ein lautes »Puh!« aus, als er endlich im Sattel saß.
»Im Hotel ›Shemtschushina‹.«
»Vornehm, vornehm!«
»Es ist mir von Intourist zugewiesen worden«, sagte sie kühl, kletterte auf ihren Maulesel und wartete auf das, was nun geschehen würde. Wohin lief das Tier? Den anderen nach – oder zurück zur Teeplantage? »Wirklich ein schönes, modernes Hotel.«
»Ich weiß. 958 Zimmer, eigener Badestrand, Restaurant, Bar, Sauna, Tanzsaal …«
»Und Sie?«
»Ich habe ein Zimmer im Sanatorium ›Sarja‹. Für 24 Tage.«
»Sie sind krank?« Irene musterte ihn. Er schien der gesundeste Mensch zu sein, dem sie je begegnet war.
»Das wäre übertrieben. Ich bin zur Kräftigung hier.«
»O Himmel! Sie sehen ja auch bemitleidenswert aus! Sind Sie vor Schwäche vom Esel gefallen?«
»Spotten Sie nur, Irina!« Bubrow gab seinem Tier einen Tritt. Es grunzte und trottete an Irenes Seite. Immerhin konnte er es bewegen, wie sie mit Staunen feststellte.
»Ich bin Ingenieur«, fuhr er fort. »Wasserbau-Ingenieur. Ein aufreibender Beruf. Immer im Feuchten. Und stellen Sie sich vor: Ein Wasserbau-Ingenieur wird nach Sotschi geschickt, um dort Perlbäder und Unterwasser-Massagen zu bekommen! Das ist schon fast pervers. Aber es bekommt mir.«
»Bitte, hören Sie auf!« sagte sie grob. »Jetzt werden Sie blöd!«
Er gab Irenes Tier einen Klaps zwischen die Ohren, es setzte sich in Bewegung und trottete zum Teehaus der Plantage zurück. Bubrows Maulesel ging Kopf an Kopf nebenher.
»Und Sie, Irina? Wie sind Sie nach Sotschi gekommen?«
»Mit einer deutschen Reisegesellschaft.«
»Warum gerade Sotschi? Ein anständiger Deutscher aus der Bundesrepublik fährt nach Mallorca, Ibiza, Torremolinos oder Teneriffa. Aber nach Sotschi, ans sowjetische Schwarze Meer? Wo man sich doch so Schreckliches von Rußland erzählt: Nichts zu essen, unhöfliche Bedienung, kaputte Wasserleitungen, überall nur Improvisation …«
»Was wollen Sie jetzt hören? Ein Loblied auf Sotschi?«
»Nicht nötig. Ich liebe mein Rußland! Aber warum sind Sie hier?«
»Es hat persönliche Gründe«, sagte sie steif. »Ich wollte sein, wo ich ohne viel deutsche Laute um mich herum – na, sagen wir, ausspannen kann. Und nun ist doch einer da, der am Schwarzen Meer singt: Warum ist es am Rhein so schön …« Sie lächelte etwas gequält. »Trotzdem waren es zwei schöne Wochen.«
»Und wie lange bleiben Sie noch?«
»Noch sieben Tage.«
»Du lieber Himmel! Nur?!« Bubrow schlug die Hände zusammen. Sein Reittier erschrak und begann zu traben. Irenes Esel tat es ihm nach. »Was müssen wir in sieben Tagen noch alles tun!«
»Sie liegen mit Ihrem Knöchel im Bett.«
»Ich habe einen besseren Vorschlag: Wir essen heute abend im Restaurant ›Magnolia‹.«
»Unmöglich, Boris.«
»Danke.«
»Wofür danke?«
»Sie haben endlich Boris gesagt, Irina.«
»Ich werde mich bemühen, solche Entgleisungen zu vermeiden.«
»Warum sind Sie so streng zu mir, Irina?«
»Ich bin nach Sotschi gekommen, um allein zu sein.«
»Aber ich bin ein Patient. Sie müssen sich um mich kümmern.«
»In Sotschi gibt es hundert Ärzte.«
»Zu keinem habe ich Vertrauen. Sie wissen doch, wie ausschlaggebend für den Heilungsvorgang die psychologische Bereitschaft des Kranken ist. Mein Knöchel heilt nur, wenn Sie ihn behandeln. Schließlich kenne ich meinen Knöchel seit 35 Jahren. Ein eigenwilliger Knöchel!«
»Wir werden sehen«, sagte sie und hielt sich fest. Die Maulesel witterten den Stall und begannen einen leichten Galopp. »Ich glaube nicht, daß Sie fähig sind, ins ›Magnolia‹ zu kommen.«
»Aber Sie werden da sein?«
»Ja.«
»Ich bin der glücklichste Mensch!« rief Bubrow und reckte die Arme zum Himmel.
Während der Rückfahrt nach Sotschi saßen sie im Bus nebeneinander. Der Dicke, er kam aus Oberhausen, erzählte Witze aus dem Ruhrpott. Die Deutschen bogen sich vor Lachen. Wer sonst noch im Bus war, grinste allenfalls verlegen.
»Ich bin zweisprachig aufgewachsen«, sagte Boris Alexandrowitsch. »Russisch und deutsch. Meine Großmutter, von der Mutter her, kam aus Schwaben. Die unvergessene Irina. Ich liebe Deutschland, auch wenn ich es nie
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