Katzenmond
1
Serrano vermisste den September.
Es war sein Lieblingsmonat, was möglicherweise daran lag, dass er im September geboren worden war. An jenem Montag vor sechs Jahren, um das morgendliche Sechsuhrläuten herum, war ihm die Welt erstmals und darum umso eindrucksvoller in Form einer milchharten Zitze begegnet. Diese Zitze wiederum lag, auf Moos und Gras gebettet und von zwei Schuppen und einem Brennnesselfeld geschützt, mitten im Paradies. In den sechs Wochen, die Serrano dort zugebracht hatte, hatte es kein einziger Mensch betreten und auch sonst kein anderes Wesen, abgesehen von ein paar Insekten und einer Maus, die Serranos Mutter sich sofort einverleibt hatte. Jeden Abend sirrte die Luft vom Gezwitscher der Fledermäuse, und morgens beugten die Quecken, die jeden Zentimeter seiner Heimstatt bedeckten, sich unter der Last des Taus bis auf den Boden.
Vielleicht lag es daran, dass Serrano all das seitdem Jahr um Jahr herbeisehnte, den Tau, die Fledermäuse und die wehmütig an Mauern zerfließende Sonne. Die Wehmut schätzte er besonders, denn sie gab dem September einen Rahmen, der ihn gleichermaßen mit seiner Jugend verband und von ihr trennte.
Davon abgesehen mochte Serrano den September, weil er sich mit Überraschungen zurückhielt. Die Gereiztheit des Frühlings war verflogen, die Rastlosigkeit des Sommers klang ab und ging gemächlich in vollkommene Erwartungslosigkeit über. Alles, was zählte, war der Augenblick, und selbst der blieb manchmal in Spinnennetzen hängen. Dann zählte nur noch die Seligkeit des Nichts.
In diesem Jahr jedoch fühlte er sich in seinem Frieden gestört. Und als er die erste seiner beiden Tagesrunden abging, fragtesich Serrano zum wiederholten Male, warum. Mit Ausnahme der Fledermäuse, die die Erneuerung der Häuser im Revier nicht vertragen hatten, war alles eingetroffen. Ein bisschen zu viel Regen vielleicht. Aber das konnte schon mal vorkommen und verstärkte höchstens die Wehmut, die im Unterschied zu den vorangegangenen Jahren einen bitteren Beigeschmack besaß, als hätte er aus Versehen auf eine Schneebeere gebissen. Aber auch diese Erklärung überzeugte Serrano nur halb. Die Wehmut begleitete ihn schon den ganzen Sommer über, genau genommen seit jenem Tag, als ein fliegendes Menschenweibchen seine Freundin Aurelia zu einer Briefmarke zerdrückt hatte. Um das Unglück perfekt zu machen, war auch noch sein alter Gefährte und Lehrmeister Bismarck mit schabenden Lungenflügeln aus dem Leben geschlichen, hatte der Kiezfleischer Serrano die Männlichkeit gestohlen, alles innerhalb einer einzigen Woche. Als blasser Verwandter der Verzweiflung war ihm die Wehmut über die Zeit hin ein treuer Freund geworden, lange bevor der September Einzug gehalten hatte. Großzügig teilte Serrano sich mit ihr Bismarcks ehemaligen Stammplatz unter dem Fliederbusch eines Vorgartens und einige seiner Gewohnheiten, die er als Reverenz an den Alten kurzerhand übernommen hatte. Nein, die Wehmut war unschuldig. Demnach musste es etwas anderes sein.
In einiger Entfernung erblickte Serrano seinen Sohn Cäsar, der zwischen Spielplatz und Erlöserkirche über die Straße trabte. Er legte ein wenig an Tempo zu und erwischte ihn unterhalb der Kirchentreppe. Nach den tragischen Ereignissen im Frühling hatte er Cäsar die Verwaltungsgeschäfte des Viertels übergeben. Und als er ihn jetzt betrachtete, bereute er es nicht. Cäsar wirkte erschöpft. Über sein graues Fell zogen sich ausgedehnte Staubinseln und verdeckten die feine schwarze Maserung, die er von ihm geerbt hatte. An den Innenseiten seiner Beine entdeckte Serrano getrocknete Schlammklümpchen.
Cäsar blinzelte an ihm vorbei auf die Seitentür des Kirchhofs.Derartige Respektbezeigungen von Seiten seines Sohnes irritierten Serrano noch immer. Früher hatte Cäsar seinen Blick trotzig gesucht. Er beschloss, das Gespräch zu eröffnen. »Wie laufen die Geschäfte?«
Sofort versteifte sich Cäsar.
»Ich frage ohne Hintergedanken«, fügte Serrano eilig hinzu. »Selbst der verflohteste Eckensitzer bestätigt, dass du deinem Amt gewachsen bist. Nicht, dass ich mich danach erkundigt hätte, sie bestätigen es ganz von …«
»An der südlichen Reviergrenze hat es einen Kampf gegeben«, unterbrach Cäsar ihn mit einer Stimme, die ebenso von Staub verklebt schien wie sein Fell. »Der Knöterich gegen einen Fremden. Die Regeln sind verletzt worden. Ich muss zum Knöterich und herausfinden, wer der Fremde war, ehe er die ganze Gegend auf den
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