Die Liebeshandlung
sagen, ihre Traurigkeit zu benennen, und so war Madeleine verblüfft über Mitchells kühle Antwort.
«Warum erzählst du mir das?», sagte er.
Sie hob den Kopf, strich sich das Haar aus dem Gesicht. «Ich weiß nicht. Du wolltest doch wissen, was mit mir ist.»
«Eigentlich nicht. Ich habe nicht mal danach gefragt.»
«Ich dachte, es interessiert dich vielleicht», sagte Madeleine. «Weil du doch mein Freund bist.»
«Ach ja», sagte Mitchell mit einem plötzlich sarkastischen Unterton.«Unsere wunderbare Freundschaft! Unsere ‹Freundschaft› ist aber keine Freundschaft, weil sie nur nach deinen Bedingungen funktioniert.
Du
bestimmst die Regeln, Madeleine. Wenn du monatelang nicht mit mir sprechen willst, sprechen wir nicht miteinander. Dann
willst
du mit mir sprechen, weil du mich brauchst, damit ich deine Eltern unterhalte – also reden wir jetzt wieder. Wir sind Freunde, wenn du befreundet sein willst, und wir sind nie
mehr
als Freunde, weil du das ablehnst. Und ich – ich soll mich danach richten.»
«Tut mir leid», sagte Madeleine, die sich unter Druck gesetzt und überrumpelt fühlte. «Auf die Art mag ich dich eben nicht.»
«Genau!», schrie Mitchell. «Du fühlst dich körperlich nicht von mir angezogen. Okay, in Ordnung. Aber wer sagt dir eigentlich, du hättest mich je
geistig
angezogen?»
Madeleine reagierte wie von einer Ohrfeige getroffen. Wütend, gekränkt und aufgebracht zugleich.
«Du bist so ein» – sie suchte nach dem schlimmsten Ausdruck –, «so ein
Wichser
!» Sie hoffte, das Auftrumpfende zu bewahren, aber es stach in ihrer Brust, und zu ihrem Entsetzen brach sie in Tränen aus.
Mitchell wollte ihren Arm berühren, aber sie schüttelte ihn ab. Ruckartig stand sie auf und ging so beherrscht wie möglich, um nicht die Rolle des vor Wut heulenden Mädchens zu spielen, zur Tür hinaus und die Treppe zur Waterman Street hinunter. Mit dem festlichen Kirchhof konfrontiert, wandte sie sich bergab in Richtung Fluss. Sie wollte weg vom Campus. Die Kopfschmerzen waren zurückgekehrt, ihre Schläfen pochten, und als sie zu den Sturmwolken aufblickte, die sich wie weitere böse Verheißungen über Downtown sammelten, fragte sie sich, weshalb eigentlich alle so gemein zu ihr waren.
Madeleines Liebeswirren hatten zu einer Zeit begonnen, als sie Bücher von französischen Theoretikern las, die den Begriff der Liebe dekonstruierten. Semiotik 211 war ein Fortgeschrittenen-Seminar auf hohem Niveau, das von einem Überläufer aus dem Fachbereich für Anglistik gehalten wurde. Michael Zipperstein war zweiunddreißig Jahre zuvor als Vertreter des New Criticism an die Brown gekommen. Er hatte drei Generationen von Studenten die Methoden des
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, der sprachlich genauen und biographiefernen Textinterpretation, eingebläut, ehe er 1975, während eines Forschungssemesters, sein Damaskuserlebnis hatte, in Paris, woer bei einem Abendessen Roland Barthes kennenlernte und sich über einem Teller Cassoulet zu dem neuen Glauben bekehren ließ. Jetzt leitete er im Rahmen der neu geschaffenen Abteilung für semiotische Studien zwei Kurse: «Einführung in die semiotische Theorie» als Herbstveranstaltung und, im Frühjahr, «Semiotik 211». Hygienisch kahl geschoren, mit einem schnauzerlosen weißen Seemannsbart, trug Zipperstein vorzugsweise bretonische Fischerpullover und Breitcordhosen. Er begrub die Studenten unter seinen Lektürelisten: Neben den großen Semiotik-Stars – Derrida, Eco, Barthes – verpasste er den Teilnehmern von Semiotik 211 ein ganzes Elsternnest an Zusatzliteratur, das alles Mögliche enthielt, von Balzacs
Sarrasine
über verschiedene Nummern der Zeitschrift
Semiotext(e)
bis hin zu kopierten Auszügen aus Werken von E. M. Cioran, Robert Walser, Claude Lévi-Strauss, Peter Handke und Carl van Vechten. Voraussetzung für die Aufnahme ins Seminar war ein Einzelgespräch mit Zipperstein, in dessen Verlauf er seichte persönliche Fragen stellte, etwa nach dem Lieblingsessen oder der liebsten Hunderasse, und die Antworten mit rätselhaften Warhol’schen Bemerkungen kommentierte. Diese esoterische Sondierung, zusammen mit Zippersteins guruhafter Glatze und dem Rauschebart, gab seinen Studenten das Gefühl, eine spirituelle Prüfung bestanden zu haben und nun – zumindest jeden Donnerstagnachmittag für zwei Stunden – einer LitKrit-Elite auf dem Campus anzugehören.
Genau das wollte Madeleine. Sie hatte sich aus den reinsten und dämlichsten Gründen für
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