Die Liebeshandlung
dieser Vorstellung zu verabschieden. Madeleine sagte, sie mache sich erst mal einen Kaffee. Worauf Whitney sie bat, ihm auch einen zu machen.
Das College war nicht wie die wirkliche Welt. In der wirklichen Welt ließ man Namen wegen ihrer Berühmtheit fallen. Auf dem College ließ man Namen als Geheimtipp fallen – je obskurer, desto besser. So hörte Madeleine in den Wochen nach dem Wortwechsel mit Whitney andere Leute «Derrida» sagen. Sie hörte sie «Lyotard» und «Foucault», «Deleuze» und «Baudrillard» sagen. Dass die meisten dieserLeute solche waren, von denen sie instinktiv nicht viel hielt – Sprösslinge der oberen Mittelschicht, die Doc Martens und Anarchistensymbole trugen –, ließ Madeleine am Wert dieser Schwärmereien zweifeln. Aber bald bemerkte sie, dass auch David Koppel, der klug und dichterisch begabt war, Derrida las. Und Pookie Ames, die Gutachten für die Redaktion der
Paris Review
schrieb und die Madeleine
mochte
, besuchte einen Kurs bei Professor Zipperstein. Madeleine hatte immer eine Schwäche für grandiose Professoren gehabt, Persönlichkeiten wie Sears Jayne, die sich vor den Studenten ins Zeug legten, mit würgender Stimme Hart Crane oder Anne Sexton rezitierten. Whitney tat so, als wäre Professor Jayne ein Witz. Madeleine war anderer Meinung. Aber nach drei Jahren eines soliden Literaturstudiums hatte sie noch immer keine handfeste kritische Methodologie parat, die sie auf das hätte anwenden können, was sie las. Stattdessen redete sie verschwommen, unsystematisch über Bücher. Es war ihr peinlich zu hören, was die anderen im Seminarraum sagten. Und was sie selbst sagte. Ich finde, dass. Es ist interessant, wie Proust. Ich mag den Stil, den Faulkner.
Und als Olivia, die groß und schlank war und eine lange Aristokratennase wie ein Saluki hatte, eines Tages mit der
Grammatologie
unter dem Arm hereinkam, wusste Madeleine, dass aus dem Geheimtipp Mainstream geworden war.
«Wie ist dieses Buch eigentlich?»
«Hast du es nicht gelesen?»
«Würde ich sonst fragen?»
Olivia schniefte. «Sind wir etwa ein bisschen zickig heute?»
«Tut mir leid.»
«War doch nur Spaß. Es ist spitzenmäßig. Derrida ist mein absoluter Gott!»
Beinahe über Nacht wurde es lächerlich, Cheever oder Updike zu lesen, Schriftsteller, die über das Vorstadtmilieu schrieben, in dem Madeleine und die meisten ihrer Freunde aufgewachsen waren. Besser, man las de Sade, der über die anale Defloration von Jungfrauen im Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts geschrieben hatte. Der Grund, warum de Sade vorzuziehen war, bestand darin, dass seine schockierenden Sexszenen nicht von Sex, sondern von Politik handelten. Sie waren deshalb anti-imperialistisch, anti-bürgerlich, anti-patriarchalisch – gegen alles, wogegen eine aufgeweckte junge Feministin sein musste. Das ganze dritte Collegejahr hindurch hatte Madeleine mustergültig Kurse wie «Viktorianische Fantasy-Literatur: Von
Phantastus
bis zu den
Wasserkindern
» belegt, doch im vierten und letzten Jahr konnte sie den Kontrast zwischen den versauerten, augenzuckenden Teilnehmern ihres
Beowulf
-Seminars und den Hipstern, die hinten im Gang Maurice Blanchot lasen, nicht mehr ignorieren. In den geldversessenen achtziger Jahren ließ das Collegeleben eine gewisse Radikalität vermissen. Semiotik war das Erste, was irgendwie nach Revolution schmeckte. Es zog eine Grenze; es schuf eine geistige Elite; es war feinsinnig und europäisch; es befasste sich mit provokanten Themen wie Folter, Sadismus oder Hermaphroditismus – mit Sex und Macht. Madeleine war in der Highschool immer beliebt gewesen. Das jahrelange Beliebtsein hatte ihr die Fähigkeit vermittelt, reflexartig zu unterscheiden, was cool und was uncool war, sogar innerhalb von Subgruppen wie dem Fachbereich für Anglistik, wo der Begriff des Coolen gar nicht angekommen schien.
Wenn das Restaurationsdrama einen runterzog, wenn man sich von der Plackerei mit Wordsworth-Gedichten wie ein grauer Bücherwurm fühlte, gab es eine andere Option. Mankonnte K. McCall Saunders und dem alten New Criticism entfliehen. Man konnte sich ins neue Reich von Derrida und Eco absetzen. Man konnte sich für Semiotik 211 einschreiben und herausfinden, was es war, worüber die anderen alle redeten.
Semiotik 211 war auf zehn Teilnehmer beschränkt. Von den zehn hatten acht bereits die Einführung in die semiotische Theorie besucht. Das war bei der ersten Veranstaltung rein optisch zu erkennen. Um den
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