Die Liebeshandlung
von der Heirat, die Heirat aber wiederum vom Geld abhing, stand den Romanciers ein Stoff zur Verfügung, über den sie schreiben konnten. Die großen Heldenlieder besangen den Krieg, der Roman besang die Ehe. Die Gleichberechtigung, gut für die Frauen, war schlecht für den Roman. Und die Praxis der Scheidungen hatte ihm den Rest gegeben. Wäre es nicht vollkommen egal gewesen, wen Emma heiratet, wenn sie sich später hätte scheiden lassen können? Was wäre aus Isabel Archers Leben mit Gilbert Osmond geworden, wenn es einen Ehevertrag gegeben hätte? Aus Saunders’ Sicht hatte das Heiraten seine Bedeutung verloren, und damit auch der Roman. Wo fand man den
marriage plot
mit seiner verstrickten Liebeshandlung heutzutage noch? Nirgends. Man musste historische Romane lesen. Oder nicht westliche Romane über traditionelle Gesellschaften. Afghanische Romane, indische Romane. Man musste buchstäblich in der Zeit zurückgehen.
Das Thema der Hausarbeit, die Madeleine zum Abschluss des Seminars schrieb, lautete: «Der Fragemodus: Heiratsanträge und die (streng begrenzte) Sphäre der Weiblichkeit». Saunders war von ihrer Leistung so beeindruckt, dass er sie bat, ihn aufzusuchen. In seinem großelterlich riechenden Büro unterbreitete er Madeleine den Vorschlag, ihren Text zu einer Jahresarbeit im Honors-Programm auszubauen,wobei er sich zugleich bereit erklärte, sie zu betreuen. Madeleine lächelte höflich. Die Epochen, die sie interessierten – vom Regency bis zur Viktorianischen Ära –, waren Saunders’ Spezialgebiet. Er war goldig und gebildet, und aus den fehlenden Anmeldungen für seine Sprechzeiten ging klar hervor, dass ihn sonst niemand als Betreuer wollte, und so hatte Madeleine gesagt, ja, sie wolle diese Arbeit gern bei ihm schreiben.
Als Motto wählte sie eine Zeile aus Trollopes
Die Türme von Barchester
: «Es gibt kein Glück in der Liebe, außer am Ende eines englischen Romans.» Sie hatte vor, mit Jane Austen zu beginnen. Nach einer kurzen Erörterung von
Stolz und Vorurteil
,
Überredung
sowie
Vernunft und Gefühl
, im Wesentlichen allesamt Komödien, die mit einer Hochzeit enden, wollte sie zum viktorianischen Roman übergehen, wo die Dinge komplizierter und beträchtlich düsterer wurden.
Middlemarch
und
Bildnis einer Dame
enden nicht mit Hochzeiten. Sie beginnen mit der herkömmlichen Liebeshandlung des
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– den Freiern, den Heiratsanträgen, den Missverständnissen –, gehen aber nach der Hochzeit weiter. Diese Romane folgen ihren sprühenden, intelligenten Heldinnen, Dorothea Brooke und Isabel Archer, in ihr enttäuschendes Eheleben, und hier erreichte der
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seinen höchsten künstlerischen Ausdruck.
Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts war es mit dem
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vorbei. Madeleine wollte die Arbeit mit einer Darstellung seines Niedergangs beenden. In
Schwester Carrie
ließ Dreiser seine Heldin Carrie erst ein sittenwidriges Leben mit dem verheirateten Drouet führen, dann eine ungültige Ehe mit Hurstwood schließen und am Ende ausreißen, um Schauspielerin zu werden – und das war erst 1900! Als Schlusspointe dachte Madeleine an einen Hinweisauf den Frauentausch bei Updike. Darin bestand der letzte Überrest des
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: den Partnerwechsel «Frauentausch» statt «Männertausch» zu nennen. Als wären Frauen immer noch ein Besitzstück, das sich herumreichen ließe.
Professor Saunders meinte, Madeleine solle auch die historische Seite einbeziehen. Gehorsam hatte sie sich mit dem Aufkommen der Industrialisierung und der Kernfamilie, der Entstehung des Mittelstands und den Rechtsgrundlagen des Matrimonial Causes Act von 1857 beschäftigt. Aber es dauerte nicht lange, bis die Arbeit sie zu langweilen begann. Zweifel an der Originalität ihrer Ideen nagten an ihr. Sie hatte das Gefühl, Saunders’ Thesen aus dem
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Seminar wiederzukäuen. Ihre Besprechungen mit dem alten Professor waren entmutigend, darauf beschränkt, dass Saunders in den Seiten blätterte, die sie ihm gegeben hatte, und auf seine diversen, rot an den Rand geschriebenen Bemerkungen verwies.
Dann, eines Sonntagmorgens vor den Winterferien, saß Abbys Freund Whitney am Küchentisch und las etwas mit dem Titel
Grammatologie
. Als Madeleine fragte, worüber das Buch sei, gab Whitney ihr zu verstehen, die Vorstellung, ein Buch sei «über» etwas, sei genau das, wogegen dieses Buch sei, und wenn es doch «über» irgendetwas sei, dann über die Notwendigkeit, sich von
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