Die Listensammlerin
wusste es nicht. Wir hatten nach der zweiten OP eine Kur mit Anna gemacht, zwei Wochen Flox, zwei Wochen ich. In den zwei Wochen, in denen ich allein zu Hause sein würde, hatte ich schreiben wollen, und Flox hatte sich für mich gefreut, er hatte mir Kekse und Bier gekauft und anspornende, witzige Post-its in der Wohnung verteilt, die ich auf ein Blatt Papier klebte, um sie in einer Listenkiste zu verstauen. Ich hatte den Roman aufgreifen wollen, an dem ich schon lange nicht mehr arbeitete, aber beim Durchlesen des Geschriebenen sagte es mir nichts mehr, und mit keinem der Protagonisten hätte ich gerne mein Bier geteilt. Vier Tage lang tat ich nichts, gar nichts. Ich lag im Bett, zu faul sogar zum Musikhören, döste, telefonierte mit Flox und Anna, bestellte mir abwechselnd asiatisches Essen und Pizza und schaute abends ein bisschen fern (weil ich tagsüber nicht fernsah, redete ich mir ein, in meinem Kopf arbeitete der Roman sich von selbst aus). Flox kommentierte, dieses Nichtstun hätte ich mir nach der schlimmen Zeit auch verdient, ich müsse meine Gedanken erst wieder sammeln, nur keinen Druck. Am fünften Tag setzte ich mich an den Schreibtisch, um einen neuen Roman zu beginnen, tippte mehrere erste Sätze, löschte sie, bis ich den Computer wieder ausschaltete, in meinen Listen kramte, «Gute erste Sätze für einen Roman» fand. Die eine Liste führte zur nächsten, und schon bald musste ich zur Kur fahren, um Flox abzulösen. Alle anderen herzkranken Kinder wurden von ihren Müttern begleitet, die mich aber in diesen Mütterkreis nicht aufnahmen und mieden, und auch wenn ich diese besorgten Mütter gar nicht mochte, ärgerte ich mich und fühlte mich in die Schule, sechste oder siebte Klasse, versetzt. Später fand ich heraus, dass es an Flox lag: Die anderen Mütter waren alle getrennt oder unglücklich oder geschieden. Dann, eines Abends, eine hatte zu viel getrunken und fing an zu reden, die anderen stimmten ein, tranken und redeten, klärten sie mich gesammelt darüber auf, dass eine Beziehung «so was» – «so was» stand für die Kur, für Diagnosen, Krankenhausaufenthalte, Operationen, vor allem aber für eine ununterbrochene, sich aller Gedanken bemächtigende Angst – nicht überlebt. Ich trank nicht viel an jenem Abend und las an den darauffolgenden meistens in meinem Zimmer. Als Anna und ich zurück waren, riss ich mich zusammen, achtete sorgfältig darauf, mit Flox über andere Dinge zu sprechen als Annas Sauerstoffsättigung, ihre Fortschritte, ihren Gemüts- und Gesundheitszustand. Ich begann eine neue Liste, «Themen, über die Flox und ich sprechen könnten», und hatte Angst, weil ich diese Liste wirklich zu brauchen schien. Es wurde besser, und erst als es besser wurde, fiel mir auf, wie schlecht es gewesen war. Wir ließen Anna für ein Wochenende bei meinen Eltern, fuhren zu einem Festival, wir hörten Musik, tranken, alberten herum, ich schickte meinen Eltern nur eine SMS , und einmal schliefen wir miteinander. Auf der Autofahrt zurück, Flox sang, und weil er sich Songtexte nicht merken konnte, erfand er wie früher eigene dazu, die mich zum Lachen brachten, nahm ich mir fest vor, so soll es weitergehen, mit Musik. Anna ging es weder schlechter noch besser, sie wollte bei Oma und Opa bleiben, ich war guter Dinge. Am nächsten Tag schnappte sich Anna in der Kita ein Laufrad und wollte fahren, und ich konnte nichts anderes denken als: Schafft sie das, packt sie das, ist das zu viel, ihr Herz, nicht noch den Hügel herunter, und dazwischen die Entrüstung in ihrem Gesicht, warum darf ich schon wieder nicht? Flox sagte: «Aber natürlich darf sie, lass sie doch!», und schon schrien wir uns an, und schon zog sich Flox wieder mit einem Buch zurück, und schon saß ich wieder am Computer und suchte nach Geschichten von Kindern, deren halbe Herzen zu viel sportliche Betätigung nicht mitgemacht hatten (es gab zugegebenermaßen nicht viele).
Anna lernte Laufrad fahren und raste Hügel herunter, streckte dabei ihre Füße aus und schrie manchmal «Jaaaaa!» wie alle anderen auch. Manchmal half Flox ihr hoch, schob sie ein wenig, unauffällig, «Ganz schnell nach oben!», schob auch ihre Freunde an, Anna merkte nichts. Wann hatte ich ihn zum letzten Mal umarmt?
Je mehr Todesgeschichten ich las, desto ruhiger wurde ich. Ich musste mich nicht mehr wehren und nichts entscheiden. Es kommt, wie es kommt, und diesen Moment wollte ich festhalten, den einzigen ohne Sorgen. Sogar schreiben wollte
Weitere Kostenlose Bücher