Die Listensammlerin
ich dann. Morgen würde ich mit Anna in den Zoo gehen, das hatte sie sich gewünscht für den Tag vor der OP . Mit Mama, Papa, Oma, Opa, Berlin-Oma, Berlin-Opa und Bär in den Zoo. Aber meine Mutter würde nun doch nicht mitkommen, und vielleicht auch Frank nicht, weil sie bei meiner Großmutter bleiben würden, und vielleicht würde, während wir Anna die Tiger und Leoparden zeigten und Anna ihrem Bären die Braun- und Eisbären zeigte, mein Telefon klingeln, und man würde mir sagen, dass meine Großmutter nicht mehr war. Großmutter hatte zum Eisbär immer «Weißbär» gesagt, es hieß im Russischen so, aber meine Großmutter bestand zudem darauf, dass es logisch sei – der Bär ist weiß, nicht aus Eis.
Am darauffolgenden Tag würde Anna operiert werden, und mit ganz viel Glück auch Großmutter, und die Gedanken an diese lebensbedrohlichen Operationen berührten mich überraschenderweise nicht so sehr, wie sie sollten, was unfassbar angenehm war.
Ich holte meinen Krankenhausordner hervor, suchte die Liste der Sätze, die man von einem Arzt nicht hören möchte:
– Es lohnt sich nicht mehr zu operieren.
Ich dachte an Onkel Grischa, ich hätte ihn gerne um mich gehabt. Er würde mir jetzt vielleicht eine Geschichte erzählen, und wir könnten, wenn er mir gegenüber in dem braunen Ohrensessel säße, nicht älter als auf dem Bild, denn einen onkelhaften Onkel wollte ich nicht, er wäre jetzt über sechzig und wahrscheinlich ein Glatzkopf, zusammen lachen. Ich hatte große Lust zu lachen, aber ich war alleine, und etwas Lustiges fiel mir nicht ein. Ich begann eine neue Liste: «Wie ich mir Onkel Grischa vorstelle», die mir großen Spaß bereitete und noch an diesem Abend drei Seiten füllte. Ich schrieb in vollständigen Sätzen, was listenuntypisch war.
Später fiel mir ein, dass es ja Grischas Mutter war, die im Wald gefunden wurde, die ihr rechtes Auge nicht mehr aufbekommen würde («Es ist kaputt», hatte eine Schwester gesagt, als meinte sie ein Glas) und das linke wohl auch nicht. Auch dieser Gedanke berührte mich nicht, weshalb ich endlich den an meinen Vater zuließ, und mit diesem Gedanken und mit dem offenen Laptop neben mir, der irgendwann in der Nacht nach Strom geklingelt haben müsste, was ich nicht hörte, aber Flox, der aufstand und mich zudeckte, mit dem Ordner mit den Krankenhauslisten auf dem Schoß schlief ich ein.
Ich träumte von Onkel Grischa, der Frank erstaunlich ähnlich sah, was mich auch im Traum wunderte. Er wollte von mir wissen, warum ich so traurig war, worauf ich immerzu erwiderte: «Verstehst du es etwa nicht?», bis ich es selbst nicht mehr verstand. Grischa lachte viel, ein schallendes, vogelfreies Lachen, das ich beneidete. Am nächsten Morgen nahm ich den Traum in meine «Liste der bedeutsamen Träume» auf. Sie blieb auch nach Jahren erstaunlich kurz.
Flox hatte mich gefragt, als wir abends in der Küche saßen und ich für ihn die Bruchstücke der neuen Familienchronik zu einer Geschichte zu verbinden versuchte, die Lücken zudichtend, ob man nicht herausfinden könne, was aus Grischa, meinem Vater und auch meinem anderen Onkel geworden war, über den Frank nichts wusste, außer, dass er irgendwo im tiefsten Russland, und den Namen der Stadt hatte ich schon vergessen, irgendein «Kutsk» oder «Kursk», lebte. Frank hatte erzählt, er habe zahlreiche Anfragen an das ehemalige Arbeitslager geschickt, Perm-und-eine-Zahl hieß es, die ich sofort wieder vergessen hatte, und schlussendlich eine Sterbeurkunde meines Vaters erhalten. Von Onkel Grischa gäbe es nichts. Frank sagte, das könne einiges heißen, und als ich für Flox diesen Satz wiederholt hatte, klang er hoffnungsvoller als bei Frank.
Morgens weckte mich Anna, die auf die Couch kletterte und sich auf meinen Bauch setzte. «Heute keine OP , heute Zoo!»
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Einundzwanzigstes Kapitel
Es war merkwürdig, fast wie in einem Dogmafilm, meine Mutter nachts hier zu treffen. Erst wussten wir beide nicht, was wir sagen sollten, vielleicht wollten wir auch gar nichts sagen. Ich blieb stehen, sie stand nicht auf, um mich zu begrüßen, eine oder zwei Minuten erstarrten wir so, vielleicht sogar fünf.
«Kannst du nicht schlafen?», fragte sie. War sie zu müde, um dabei besorgt zu klingen oder wirklich besorgt zu sein, oder zügelte sie ihre Besorgtheit, weil sie wusste, dass ich diese nur schwer ertrug? Ich war ihr dankbar dafür.
«Ja. Und du?»
«Ich wollte bei ihr bleiben. Aber sie lassen
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