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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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bis Großmutter zu saugen begann. Das schien sie alle zu freuen, mich als Einzige nicht. Meine Großmutter erbrach das Wasser zehn Minuten später wieder, aber ihre Augen, ihr linkes Auge, das als einziges an ihrem Körper noch so wirkte wie früher, öffnete sie dabei nicht.
    Meine Mutter, erzählte mir Frank, hatte schon, bevor ich kam, die Anweisung gegeben, sie nicht mit Hilfe einer Magensonde zu ernähren, und wäre meine Mutter nicht meine Mutter, hätte ich sie dafür umarmt.
    Auf der Intensivstation durfte erst keiner von uns zu Großmutter, später nur ihre Tochter, ich zum Glück nicht. Meine Mutter zögerte, wie ich später zögern würde, wollte sie nicht? Zu ihrer Mutter? So schnell es ging? Sie kramte in ihrer Tasche, ging auf die Toilette, fragte mich nach Wasser und Frank nach einem Bonbon, er legte ihr eine Hand auf die Schulter, zärtlich, sodass ich mich schuldig fühlte, diese Geste zu sehen.
    Ich fragte mich (neuerdings, seit ein paar Stunden), ob Frank meine Mutter liebte, ob sie ihn liebte und wer aus Pflichtgefühl bei wem blieb, das Opfer beim Retter oder umgekehrt, ob sie Schuld, Dankbarkeit, Verantwortungsgefühl, Mitleid mit Liebe verwechselten, ich schob den Gedanken beiseite, natürlich liebten sie sich. Die Hand auf ihrer Schulter ignorierte sie.
    «Jedes Mal habe ich Angst, wenn ich sie besuche. Wie wird sie sein, wo wird sie sein? Aber heute …», sagte sie, und wenn der Satz an jemanden gerichtet war, dann an mich, nicht an Frank. Viele Fragen waren zu plötzlich in meinem Kopf, wie sprach sie mit Frank, wie oft, sprachen sie miteinander? Ich wollte nicht nach Antworten suchen, und um die Fragen loszuwerden, schüttelte ich entschieden den Kopf.
    «Das ist so. Das darf ich auch einmal sagen», sie klang verletzt. Dann marschierte sie hinein, als hätte sie keine Zweifel. Frank legte seinen Arm um mich. Frank und ich hatten an diesem Tag mehr Körperkontakt als im ganzen letzten Jahr.
    Jetzt zählte ich schon den Körperkontakt.
    Sie verlegten meine Großmutter von der Intensiv- auf die geriatrische Station. Wir hielten das für ein gutes Zeichen, ich schrieb sogar Flox, meiner Großmutter ginge es besser, sie werde verlegt, er schickte geschätzte zwanzig Smileys zurück, dann sagte uns der Arzt, den ich direkt danach auf die Liste der «Ärzte, die sich für Götter halten» setzte, ohne Umschweife und stocknüchtern, er gehe nicht davon aus, dass man für meine Großmutter noch etwas tun könne. Eine OP lohne sich nicht, teilte er mit, jeder Mechaniker hätte den Komplettschaden eines Autos mit mehr Gefühl verkündet. Sollte sich ihr Zustand nicht plötzlich bessern, wovon er nicht ausging, wovon niemand ausging, betonte er. Was danach kam, hatte ich zu oft gehört, ich wollte es nicht noch einmal hören, weshalb ich ein paar Schritte zur Seite machte, meinen Notizblock herausholte und den Arzt auf die Liste setzte. «Sie können beten.» In meinem Krankenhauslistenordner zu Hause hatte ich eine Liste mit Sätzen, die man von Ärzten nie hören möchte.
    Später freute sich meine Mutter aufrichtig, woher sie nur die Energie dazu nahm, dass Großmutter allein im Zimmer war. «In der Sowjetunion mussten wir immer mit fremden Menschen in einer Kommunalka leben.» Meine Großmutter wusste ziemlich sicher überhaupt nicht, wo sie sich befand. Die Polizei hatte berichtet, ein Spaziergänger habe sie im Perlacher Forst gefunden, im Gebüsch, und ich versuchte, mir nicht vorzustellen, wie die Hunde um sie herum bellten und die Polizisten die Hunde lobten, «Fein, gut gemacht», und einer von ihnen sich herunterbeugte, um ihren Puls zu nehmen, wie sie Großmutter auf eine Liege hoben und sie zudeckten, noch vor der richtigen Untersuchung, denn beinahe erfroren war sie auf jeden Fall. Nicht mal das Hundegebell hatte sie geweckt.
    Sobald die Besuchszeit vorbei war, schmissen sie uns raus, worüber ich nicht unfroh war. Ich fuhr nach Hause, Flox’ Eltern waren bereits im Hotel, Anna schlief, aber Flox war aufgeblieben und wartete in der Küche auf mich, was mich freute, Flox trug ein altes Pink-Floyd-T-Shirt und eine schwarze Jeans, seine Haare sahen aus, als hätte er unruhig geschlafen, wie sie es auch taten, wenn er vom Friseur kam. Ich umarmte ihn, wann hatte ich ihn zum letzten Mal umarmt? War es, weil die letzten Tage so angefüllt waren von Dingen, die sonst nur in Filmen, in meinen Büchern oder in meinem Kopf passierten, war es, weil wir uns tatsächlich kaum gesehen hatten, ich

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