Die Listensammlerin
andere entsetzt, und dann musste Flox laut lachen und legte seinen Arm um mich, als sei er stolz; der Arzt blickte noch entsetzter. Eine Stunde später kam Mathilda, unsere Lieblingsschwester, auf uns zugerannt, Anna ginge es besser, wir könnten sie jetzt sehen. Ich brauchte noch einen Augenblick, bevor ich Flox und Mathilda hinterherrannte, ich musste, obwohl das eine mit dem anderen nichts zu tun hatte, noch etwas aufschreiben. Mathilda kannte das, sie stellte mich anderen wartenden Eltern in der Abteilung vor als «die Mama, die immer etwas schreibt».
Während der ersten OP hatte Flox getan, was man so tut: Er war Flure auf und ab gelaufen, hatte in der Nähe des OP -Saals gelauert, ich hatte ihn Haare raufen sehen, er hatte alle, meine Familie und seine Familie, mit Kaffee, Getränken und Sandwiches versorgt, selbst nichts gegessen, in Zeitschriften geblättert, ohne sie zu lesen, immer wieder die Uhren angestarrt, die an der Wand, die an seinem Handgelenk und die auf dem Handy. Er hatte geschwitzt, und seine Mutter hatte aus ihrer Tasche ein T-Shirt geholt (wie seltsam, ich hatte für Anna immer auch Ersatzklamotten dabei), er hatte es angezogen, und auch dieses hatte bald Schweißflecken unter den Achseln und am Rücken.
Ich schwitzte nicht, ich hatte es leichter. Ich hatte Listen geschrieben. Dreiundsechzig überarbeitete und elf neue Listen waren nicht schlecht für eine fünfstündige Operation.
Während der zweiten OP war Flox ruhiger gewesen oder hatte sich zumindest so verhalten wollen. Anna hatte bereits eine Stunde vorher einen Saft bekommen, den ich gerne flaschenweise getrunken hätte: Sie lachte über alles und jeden, vor allem über seine Nase. Sie schoben sie auf ihrem Bett heraus, eine Schwester hinten, eine vorne, Flox neben Anna, die nun doch ein wenig Angst bekam und die Arme nach ihm ausstreckte (und zum Glück auch mit Papa an ihrer Seite zufrieden war). Flox begleitete sie bis zum OP -Saal, ich musste an einen Flughafen denken, es war, als hätten wir kein Flugticket und müssten hinter dem Sicherheitscheck zurückbleiben; den Vergleich musste ich natürlich notieren. Flox kam zurück, Tränen in den Augen, setzte sich neben mich, wollte mich in den Arm nehmen, aber da war ich mit den Listen schon zu beschäftigt.
Flox fuhr nach Hause und backte, es war kurz vor Weihnachten, drei Sorten Plätzchen: Zimtsterne, Vanillekipferl, Kokosmakronen. Als er zurückkam, eine halbe Stunde bevor die Operation vorbei sein sollte (beide hatten wir uns, ohne darüber zu sprechen, darauf eingestellt, dass sie länger dauerte), hatte er mit Plätzchen gefüllte Geschenktütchen für die Ärzte und Schwestern dabei und ich immerhin einige neue und viele überarbeitete Listen gemeistert.
Waren Flox und ich schon immer so unterschiedlich gewesen, oder hatten wir einen Anlass wie diesen gebraucht, um den Gegensatz zu entdecken? Er erstaunte uns beide, immer wieder, mir machte er Angst. Flox fragte nie: «Warum?» Oder: «Warum ich, womit habe ich das verdient?» Flox hasste nicht, nicht das Leben, nicht Gott, nicht die Ärzte, nicht die anderen, gesunden Kinder, auch nicht das Schicksal, nicht sich und nicht mich. Ich hasste eine Weile querbeet und wahllos alles, manchmal hasste ich auch Anna, weil sie so zur Welt kommen musste, aber Letzteres gestand ich höchstens mir selbst ein.
Anna hatte die dritte OP übermorgen vor sich, und ich fand, ich hatte mir das Googeln nach Geschichten mit traurigem Ende verdient. Sie beruhigten mich, wie Flox Studien, Prozentzahlen und das Lächeln der Ärzte bei den Kontrollen beruhigten. Ich hatte den langen Abend zur Hälfte auf der Intensivstation und zur Hälfte in der geriatrischen Abteilung verbracht. Ich hatte meine Großmutter gesehen, hatte die Begegnung hinausgeschoben, solange es ging, holte Kaffee, telefonierte, ging häufiger zur Toilette als sonst, sprach mit der Polizei und jedem anderen, der gerade da war, wartete auf den Arzt, die Schwester, das Abendessen, obwohl meine Großmutter nichts aß.
Ihr linkes Auge öffnete sie kein einziges Mal. Das rechte war so geschwollen, das Augenlid so dunkel, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass es je wieder aufgehen könnte. Das Gesicht war zerkratzt, der Kopf mit einem Verband umwickelt, ich sah auch den Nasenbruch nicht, den meine Mutter oder der Arzt erwähnt hatte, ich sah nur bläuliche Lippen, denen eine Krankenschwester oder auch meine Mutter abwechselnd Wasser einzuflößen versuchte, es dauerte Stunden,
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