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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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anzustarren, aber einen Blick auf den Deutschen, auf Frank, konnte er nicht mehr erhaschen.
    «Deine Freunde wirst du nicht wiedersehen», flüsterte ihm eine der beiden Wachen gehässig zu.

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    Zwanzigstes Kapitel
    Ich tat, was ich nicht tun durfte, und hoffte, Flox erwischte mich nicht, er war noch wach und las. Ich saß im Wohnzimmer auf der Couch mit dem Laptop und trieb mich im Internet herum. Wie immer las ich die Geschichten mit dem schlimmen Schluss. Nacheinander gab ich «Tod-und»-Kombinationen ein: Tod+Norwood 3 , Tod+Fontan- OP , Tod+ HLHS , Tod+halbes Herz und so weiter. Ich las und weinte, las von Neugeborenen, die bei oder direkt nach der Geburt sterben, las von Babys, die eine der drei notwendigen Operationen nicht überleben, von Kindern, die nach Hause entlassen werden, sich ganz normal entwickeln und dann eines Tages, eines Nachts sterben, Happy-End-Geschichten las ich nicht. Bilder von Kindern, die trotz des schweren Herzfehlers turnen, reiten, schwimmen und lachen, sah ich mir wissentlich nicht an.
    Flox sagte, mein Verhalten sei «kranker als krank». Dass ich abende- und nächtelang traurige Geschichten las, mache ihm Sorgen, mehr als Anna und der ganze Rest. Er nötigte mich, mit dem Psychologen im Krankenhaus darüber zu sprechen, was ich tat, weil die Verzweiflung größer als der Unwille war und ich an manchen Tagen nach der zweiten OP , die Anna nur knapp überlebt hatte, nicht wusste, was tun. Ich wachte auf, zu Hause oder im Krankenhaus auf einem Stuhl, und einen Moment lang war alles wie früher, ich öffnete die Augen, streckte mich, dann fiel es mir ein, und ich wusste einfach nicht weiter. Was jetzt? Wie steht man auf, welchen Fuß zuerst, und was dann, wenn ich aufrecht stehe? Sie sagten Depression dazu, es war, als hätte mein Gehirn keine Befehle an den Körper zu geben.
    «Sie dürfen!», rief der Psychologe laut wie im Theater. Er war kaum älter als ich und gab sich so offensichtlich Mühe, mich direkt anzublicken und vertrauensvoll zu lächeln, dass sogar ich den Professor in seinem Kopf sprechen konnte: «Augenkontakt aufrechterhalten! Klare Botschaften vermitteln!»
    «Sie als Mutter dürfen sich gehenlassen. Sie müssen nicht funktionieren. Sie dürfen einfach im Bett bleiben und trauern. Momentan müssen Sie gar nichts. Vor allem aber dürfen Sie weinen! Weinen Sie, wenn Ihnen danach ist.» Er tat mir leid.
    Ich weinte nie, nie um mein eigenes Kind. Stattdessen weinte ich um Mia, Thomas, Janis und Luca, deren Geschichten ich nur aus dem Internet kannte. Das erzählte ich dem Psychologen, Flox zuliebe, der mit mir neuerdings sprach, auf mich einredete, als sei ich nicht älter als Anna. Es ärgerte mich, deshalb wollte ich es einmal jemand anderem erzählt und einmal von ärztlicher Seite gehört haben, dass ich nicht kranker als krank sei. Dass mich dieser Satz überhaupt beschäftigte. Anna wurde im künstlichen Tiefschlaf gehalten, damit ihr Herz sich nicht überanstrengen musste, sie wurde beatmet, die Ärzte sagten, sie wüssten nichts: Wir wissen nichts, eine Prognose geben wir nicht ab. Da müssen wir ehrlich sein. Wir müssen hoffen. Glauben Sie an Gott? Letzteres fragten sie häufig.
    Einmal sagte ich: «Geht Sie nichts an», und staunte über mich, ich trat den Herren und Damen in den weißen Kitteln sonst immer mit Ehrfurcht gegenüber, sie bedienten Herz-Lungen-Maschinen, setzten und entfernten Shunts, hielten Herzen im buchstäblichen Sinne in ihrer Hand. In meiner Vorstellung retteten sie Leben am laufenden Band, eins nach dem anderen, weshalb ich nicht viele Fragen stellte, um sie nicht zu stören. (Ich ähnelte in dieser Hochachtung meiner Mutter und trug es in meine Liste ein: «Wo ich meiner Mutter immer ähnlicher werde». Obwohl ich mir wie jeder Mensch etwas anderes geschworen hatte, verlängerte sich die Liste stetig, seit Annas Geburt noch schneller.) Flox dagegen stellte viele technische Fragen, bereits während der Schwangerschaft, er redete schon ein paar Tage nach der Diagnose mit den Ärzten in einer Fremdsprache – Aorta ascendens hier, Foramen ovale da, eine Glenn später sei doch … Ich hörte hin, verstand nicht viel und wollte nicht mehr verstehen, ich hatte nur eine Frage: «Wird sie leben? Wie lang?» Prognosen können wir keine abgeben. Glauben Sie an Gott?
    Nach Annas zweiter OP war es, dass ich zu einem der Ärzte sagte, das ginge ihn nichts an, Flox und der Oberarzt starrten mich an, der eine überrascht, der

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