Farben der Schuld
Mittwoch, 22. Februar
Die Luft ist kühler im Park und es ist dunkel hier, wohltuend dunkel, die Silhouetten der Bäume sind kaum zu sehen. Er läuft auf die Kirche zu, sie leuchtet gelblich im Scheinwerferlicht. Ist er allein hier? Ja, natürlich, um diese Zeit. Das Summen in seinen Ohren lässt nach, sein Atem wird freier. Keine Musik mehr, kein Gegröle. Er hört das leise Knirschen seiner Schuhsohlen auf dem Pflaster, unwirklich beinahe, als habe es gar nichts mit seinen Schritten zu tun. Zu viel, denkt er, es war einfach zu viel. Ich hätte das letzte Bier nicht mehr trinken sollen, ich hätte an morgen denken müssen. Morgen, übermorgen, all die Termine.
Trommelschläge, dumpf und lang gezogen, dröhnen jetzt von der Südstadt herüber, leiten das Ende des Karnevals ein. Die Stunde nach Mitternacht, die Stunde der Abrechnung, wenn das närrische Volk auf die Straße zieht, die Strohpuppen von den Fassaden der Kneipen reißt, sie anklagt für alle Sünden der tollen Tage, um sie dann zu verbrennen. Ein uraltes Ritual, das er niemals lustig fand, sondern ungerecht und barbarisch.
Er bleibt trotzdem stehen und lauscht den Trommeln, glaubt auch ein Echo seiner eigenen Schritte zu hören. Ein Echo, das schneller wird, lauter, ein Echo, das näher kommt, nah, viel zu nah.
Schmerz ist das nächste Gefühl. Überwältigend. Gleißend. Zwingt ihn in die Knie, raubt ihm alle Kraft. Er fällt, taumelt, unfähig, etwas dagegen zu tun. Sein Kopf schlägt aufs Pflaster, Knochen auf Stein, es hämmert und dröhnt. Er will schreien, sich wehren, und kann es nicht.
Atmen, er muss atmen. Er versucht es, rasselnd. Seine Zunge ist taub und schmeckt nach Blut. Was ist geschehen? Etwas ist da, jemand ist da, beugt sich über ihn. Kein Mensch, kein Gesicht, nur ein Schemen, und immer noch dieser wahnsinnige Schmerz.
Bitte, ich will nicht … Er kann nicht sprechen, kann sich nicht bewegen, schafft nur mit sehr großer Mühe ein Stöhnen.
Zeit vergeht, rast, gefriert. Sekunden? Minuten? Er weiß es nicht. Schräg über sich erkennt er die Kirche, unscharf, hell. Er blinzelt, erinnert sich plötzlich an die Ritterburg, mit der er als Junge so gerne spielte. Eine Festung mit Zugbrücke und Graben und zwei runden Türmen, fast so wie die, unter denen er liegt.
Jetzt ebbt der Schmerz ab und der, der ihn bringt, steht über ihm. Ein riesiger Schatten. Hebt etwas in den Himmel. Blitzend. Spitz.
Bitte … Immer noch kann er sich nicht bewegen. Immer noch sind da die Bilder aus seinem Elternhaus, und er schmeckt wieder den Kakao, den seine Mutter brachte, wenn er mit seinen Freunden Ritter spielte. Fühlt ihre weiche Hand in seinem Haar.
Er will diese Hand ergreifen, er will sich hineinschmiegen in ihren Duft, sich in ihm verlieren, aber jetzt dröhnen wieder die Trommeln und sie dringen in seine Brust und schlagen dort weiter. Dunkel. Schwer. Das ist nicht wahr, denkt er, das geschieht mir nicht wirklich. Aber der Schmerz hält ihn fest, und die Trommeln verstummen nicht, und der Schatten scheint einen Moment lang regelrecht vor der Kirche zu fliegen. Dann jagt er in irrsinnigem Tempo auf ihn herab, und der Schmerz explodiert.
Gott, denkt er. Mama. Nein. Ich will doch leben.
***
Ein letzter Blick über die Schulter. Ein Sprung. Geschafft. Bat hebt ihren Rucksack auf, setzt sich in Bewegung. Anfangs hat sie ein bisschen Schiss gehabt, Jana nachts allein zu besuchen. Schiss, dass jemand sieht, wie sie über die Mauer klettert. Schiss, dass irgendein Nachtwächter oder Bulle hier patrouilliert und Stress macht. Inzwischen ist sie cool, fühlt sich hier sicher, ja sogar geborgen. Allein mit den Toten und deren Energie, die tagsüber, wenn all die anderen Besucher über den Melatenfriedhof trampeln, kaum zu spüren ist. Die Wege zwischen den Gräbern sind unbeleuchtet, graue Kiespfade, die sich im Schwarz verlieren, auf einigen Gräbern flackern rote Lichter. Steinerne Engel bewachen sie – Boten aus einer anderen Welt. Bat lächelt. Bald wird es Frühling, und die Fledermäuse werden den Engeln wieder Gesellschaft leisten, außerdem ist es dann nicht mehr so kalt.
Da ist schon die Kapelle, wo der Hauptweg kreuzt, hier muss sie an der Trauerweide vorbei zu den neueren Gräbern. Der Weg ist ihr in den letzten zwei Jahren vertraut geworden, wahrscheinlich könnte sie ihn inzwischen mit verbundenen Augen finden. Die Flaschen in ihrem Rucksack klimpern leise, sündhaft teure Bacardi Breezer hat sie gekauft und noch einiges mehr, weil
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