Die Loewin von Mogador
Holz splitterte, Rum
spritzte über den Kai. Sibylla schrie auf, ihr Pferd legte die Ohren an, sprang
mit einem Satz nach vorn und galoppierte los. Sibylla wurde gegen die
Rückenlehne der Sitzbank geworfen, während Benjamin um ein Haar in den schmalen
Spalt zwischen Kaimauer und Schiff geschleudert worden wäre. Mit einem Rad
holperte der Gig über die Gangway, flog ein Stück in die Luft, landete wieder
hart und rutschte mit dem rechten Rad über die Kaimauer. Nur die Bordwand der
Queen Charlotte verhinderte, dass der schief auf der Achse hängende Wagen
mitsamt Pferd und Menschen ins Hafenbecken stürzte. Sibylla zerrte an den
Leinen und lehnte sich weit zurück. Doch die scheuende Stute kämpfte gegen sie
an. Eisen knirschte auf Stein und sprühte Funken, als die Achse über die
Kaimauer schlitterte. Wieder riss Sibylla an den Leinen. Doch schon blieb die
Bordwand der Queen Charlotte hinter ihnen zurück. Ohne diese Stütze neigte der
Gig sich noch weiter dem Hafenbecken zu. Sibylla schrie auf, als Benjamin den
Halt verlor, und streckte automatisch eine Hand aus, um ihn festzuhalten.
Wieder holperte die Kutsche auf dem unebenen Grund. Die Leinen schossen ihr aus
der Hand, und sie stürzte mit Benjamin kopfüber in die Tiefe.
Kalt und schmerzhaft hart schlug das Wasser
über Sibylla zusammen. Sie ruderte wild mit Armen und Beinen, um an die
Oberfläche zu gelangen. Ihr rechter Fuß traf etwas Weiches. Benjamin? Rings um
sie sprudelte schlammiges grünes Wasser. Sie strampelte heftig mit den Beinen,
aber die Bewegungen, die sie an die Wasseroberfläche bringen sollten, kosteten
sie nur Kraft. Der schwere Stoff ihres Mantels und ihre üppigen Unterröcke
hatten sich mit Wasser vollgesogen und zogen sie nach unten. Ihre Lungen
drohten zu bersten, Angst überkam sie, jämmerlich zu ertrinken. Unter
Aufbietung all ihrer Energie kämpfte sie sich endlich an die Luft.
„Hilfe!“, schrie sie keuchend. „Hilfe! Ich
kann nicht schwimmen!“ Nasse Haarsträhnen klebten ihr im Gesicht, so dass sie
nichts sehen konnte. Sie wollte sie wegwischen, ging dabei wieder unter und
schluckte stinkendes, brackiges Hafenwasser. Gleich darauf fühlte sie, wie
jemand in ihre Haare griff und sie emporzog. Sie würgte und spuckte, rang nach
Luft und schlug um sich. Direkt über ihr lachte wie zum Spott die Galionsfigur
der Queen Charlotte.
„Hören Sie auf, verdammt noch mal!“, klang
Benjamins Stimme an ihr Ohr. „Sonst ertrinken wir beide!“ Er stützte sie mit
einer Hand unter dem Kinn, so dass ihr Kopf über Wasser blieb, und ruderte mit
dem freien Arm auf die Kaimauer zu, wobei er Sibylla mit sich schleppte.
Quälend langsam kämpfte er sich vorwärts, von ihr genauso behindert wie von
seiner durchweichten Kleidung. Doch Sibyllas Atem wurde ruhiger. Sie merkte,
wie sie der Rettung Zug um Zug näher kamen. Im Wasser neben ihr schwammen zwei
Blätter aus Benjamins Schreibmappe. Die Tinte lief in kleinen Rinnsalen über
das nasse Papier, bevor es unterging. Ihr Strohhut schaukelte etwas weiter
entfernt vor sich hin. Grüne Algen hatten sich wie eine verunglückte Dekoration
um die Krempe gewickelt.
Über sich hörte sie aufgeregte Stimmen. Sie
sah ihren Vater am Rand der Kaimauer stehen, neben ihm seine entsetzten
Begleiter. Außerdem erkannte sie den zu Tode erschrockenen Mann, der den Kran
bedient hatte, einen Fuhrwerker und Kapitän Brown, der bewegungslos auf sie
herunterblickte. Ein paar Matrosen verfolgten das Ereignis, neugierig über die
Reling der Queen Charlotte hängend. Einer rief vorwitzig: „So fängt man also
heute Meerjungfrauen!“
Jetzt kam Leben in den Kapitän. „Was steht
ihr da oben rum und glotzt!“, brüllte er. „Ab mit euch! Ihr schrubbt mir
sämtliche Decks – und zwar so, dass man vom Boden essen kann!“
Das Lachen und Feixen der Männer verstummte
augenblicklich. Mit eingezogenen Köpfen schlichen sie davon.
Benjamin hatte inzwischen die eiserne Leiter
erreicht, von denen in regelmäßigen Abständen mehrere in die Kaimauer
eingelassen waren, und schob Sibylla zu den Sprossen. So rasch es in der
triefend nassen Kleidung möglich war, kletterte sie die steile Wand hinauf. Es
beruhigte sie, dass Benjamin dicht hinter ihr folgte und sie im Rücken stützte.
Endlich hatte sie die Kaimauer erreicht. Was für ein unbeschreibliches Gefühl
es doch war, wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren!
Ihr Vater trat mit schreckensweißem Gesicht
auf sie zu und nahm sie in die Arme. Dann zog er
Weitere Kostenlose Bücher