Die Loewin von Mogador
eigenen Augen sehen wollte, schien
niemanden zu interessieren. Wenn es nach ihr ging, würde sie noch lange nicht heiraten.
Doch inzwischen war sie dreiundzwanzig. Fast all ihre Freundinnen hatten einen
eigenen Hausstand gegründet. Sie hingegen lebte noch zu Hause und musste sich
dort mehr Regeln und Geboten fügen als ihr sechzehnjähriger Halbbruder Oscar.
Oh ja, sie hatte begriffen, dass eine unverheiratete Frau in den Augen der
Gesellschaft auf einer Stufe mit einem unmündigen Kind stand, mochte ihr
Verstand auch noch so gut funktionieren! Eine Heirat war vielleicht der einzige
Weg, der ihr blieb, wenn sie jemals mehr Freiheit genießen wollte.
Sie dirigierte ihr Gefährt am östlichen
Eingangstor zu den Docks vorbei, um hinter der großen Brandmauer, die das
gesamte Areal umgab, zum Ledgerhaus an der Westseite zu fahren.
„Der Brief, den ich bekommen habe, ist von
Oscar, meinem Halbbruder“, begann sie unvermittelt. „Er schreibt, dass er am
Sonntag nun doch beim Cricketturnier seiner Schule Eton gegen die
Herausfordererschule Harrow spielen darf. Das war sein größter Wunsch, für den
er sehr hart trainiert hat. Jetzt will er natürlich, dass wir am Sonntag am
Spielfeldrand stehen und ihn anfeuern.“
„Ich verstehe“, sagte Benjamin. Er fühlte
sich geschmeichelt, weil Sibylla ihm nun doch den Inhalt des Briefes anvertraut
hatte, aber er verstand nicht, warum diese Nachricht so wichtig war, dass sie
ihre eigenmächtige Fahrt ins Hafengelände erklärte.
„Natürlich hätte ich Vater die Neuigkeit auch
erst heute Abend erzählen können“, fuhr sie fort, als hätte sie seine Gedanken
gelesen. „Aber wir haben Oscar so die Daumen gedrückt, dass er in die
Mannschaft kommt. Er war als kleines Kind viel krank und so schwach, dass Vater
lange fürchtete, die Reederei würde eines Tages ohne Erben dastehen. Und
außerdem“, sie warf Benjamin ein spitzbübisches Lächeln zu, „hatte ich Lust auf
ein kleines Abenteuer.“
Sie schnalzte, und ihre Stute trabte an. Die
Feuerwache, die Werkstätten der Fassbinder, Seilmacher und Tischler, das
Wartehaus für die Passagiere, die auf den Frachtschiffen mitreisten, die Büros
der Holzhändler, eine Schmiede und die Ställe für die Arbeitspferde ließen sie
rasch hinter sich und hatten Ledgerhaus bald erreicht. Das Büro- und
Verwaltungsgebäude der West India Dock Gesellschaft mit seinen gelben und
dunkelroten Backsteinmauern und dem glänzenden kupfernen Dach war ein
auffallendes Bauwerk. Im Inneren befand sich nicht nur der Konferenzraum der
Gesellschafter, sondern auch ein Schreibsaal, eine Kantine sowie die Büros der
Hafenpolizei und der Dockaufsicht. Einige Herren standen vor dem
säulengeschmückten Eingang und unterhielten sich angeregt. Sibylla erkannte sie
als Mitglieder der Dockgesellschaft, aber ihren Vater sah sie nicht. Einer der
Herren entdeckte sie, winkte heftig und eilte herbei. „Meine liebe Miss
Spencer, was tun Sie denn in dieser Gegend? Ist Ihre Familie wohlauf? Zu Hause
wird doch kein Unglück geschehen sein?“ Er warf Benjamin einen strafenden Blick
zu, ganz so, als wäre er dafür verantwortlich, dass eine Dame wie Miss Spencer
im Hafengelände herumfuhr.
„Es ist alles in bester Ordnung. Machen Sie
sich keine Sorgen“, entgegnete Sibylla kurz angebunden. „Ist mein Vater noch im
Gebäude?“
Der Mann schüttelte den Kopf. „Bedaure. Er
ist mit einigen Gesellschaftern zu den Docks gegangen. Sie wollen in Speicher
drei prüfen, ob wir genügend Kapazitäten für die Waren aus Marokko haben. Wenn
Sie wünschen, lasse ich ihn holen.“
„Bemühen Sie sich nicht, danke!“ Sibylla
schnalzte mit der Zunge, und ihre Stute zog an.
„Soll ich Sie hier irgendwo aussteigen
lassen?“, fragte Sibylla, als sie das Westtor zu den Docks erreicht hatten.
Benjamin maß sie mit einem empörten Blick. „Sie glauben doch nicht allen
Ernstes, dass ich Sie allein lasse? Ihr Vater würde mir den Kopf abreißen!“
Die Tagelöhner, die sich jeden Morgen vor dem
Tor versammelten, um Arbeit als Lastenträger zu ergattern, waren längst fort.
Dafür warteten jetzt mehrere Fuhrwerke, dass sie auf das Gelände durften.
Während Sibylla in der Schlange anstand, wanderte ihr Blick zu der großen
Gedenktafel in der Mauer, die an die Gründungsväter der Dockgesellschaft
erinnerte. Es erfüllte sie mit Stolz, als sie den Namen ihres Großvaters
Horatio Spencer las, der zu jener Gruppe von Männern gehört hatte, die Ende des
letzten Jahrhunderts
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