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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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echtes Talent für das Zeichnen und Malen besaß.
    Zurück in Pennsylvania im Dezember, hatte Addie ihren Eltern nichts von ihren neuen Plänen erzählt. Auch ihrem damaligen Freund hatte sie nichts gesagt, obwohl sie bereits seit Oktober wusste, dass sie bei der erstbesten Gelegenheit, wenn sie wieder in Burnham wäre, mit ihm Schluss machen würde. Dennoch machte sie sich hin und wieder Sorgen, es könnte vielleicht ein Fehler sein, ihn aufzugeben. Sie hatten immerhin vage von Hochzeit nach dem College gesprochen. Und was würde sie denn nun anfangen, ohne abgeschlossene Lehrerausbildung als Absicherung?
    »Kellnern gehen und in Greenwich Village leben und fabelhafte, sexy Künstler wie Willem de Kooning treffen«, sagte Lou, die selbst Kunst im Hauptfach studierte und aus einer wohlhabenden Familie in Philadelphia stammte, als die drei Freundinnen im Januar wieder vereint waren. »Such dir eine Stelle als Sekretärin in Philadelphia und bilde dich in Abendkursen
zur Kunstlehrerin weiter«, lautete Coras Vorschlag. Immer noch waren die beiden die Einzigen, die von Addies Vorhaben wussten. Während der Zeit im Ausland hatte Addie sich wie nach Liebhabern nach ihnen gesehnt – nach ihnen, ihren heißgeliebten Zimmergenossinnen, den einzigen Menschen, die sie verstanden.
    In ihrem Elternhaus über die Weihnachtsfeiertage hatte sie niemanden gehabt, der sie verstehen konnte. Aus England war Addie dünner zurückgekehrt, als sie seit Jahren gewesen war, und sie legte und toupierte sich auch das dunkelblonde Haar nicht mehr. Ihre Mutter beobachtete sie besorgt, drängte ihr bei jeder Mahlzeit mehr Essen auf. Doch Addie konnte die Eier, die Bratkartoffeln, das ganze Essen ihrer Kindheit kaum anrühren. Sie nippte nur an einer Tasse Kaffee und knabberte an einem Stück des selbstgebackenen Brots ihrer Mutter. Außerdem war es ihr beinahe unmöglich zu zeichnen. Jeden Tag packte sie sich dick in einen groben Wollpulli und einen zerschlissenen Tweedmantel ein – beides für Pennys in einem winzigen Secondhandladen in London gekauft – und zog ihre schlammbespritzten Gummistiefel über. Die Schuhe hatten unten in ihrem Koffer eine Schicht Staub und Dreck hinterlassen, die auch dort blieb, denn es war englischer Schmutz, und Addie konnte nicht ertragen, sich davon zu trennen. Und jeden Tag nahm sie ihr Skizzenbuch und einen Bleistift mit, obwohl sie befürchtete, der Tag würde sich nicht von den anderen seit ihrer Rückkehr unterscheiden.
    An dem zugefrorenen Teich ein Stück von ihrem Elternhaus entfernt, weit weg von den Gerüchen nach Lehm und Dung und dem täglichen Backen ihrer Mutter, weit weg von ihrem Kinderzimmer und den traurigen, betrogen dreinblickenden Augen der Kühe im Stall – nur an diesem zugefrorenen Teich konnte sie ein Fünkchen dessen erhaschen, was sie am Ufer
des Grasmere-Sees oder im Schatten der Westminster Cathedral empfunden hatte, Notizblock in der Hand, emsig skizzierend. Doch nicht das sich kräuselnde Wasser des Sees und auch keinen Strebebogen. Was Addie dort gezeichnet hatte, besessen, andächtig, mit der Hingabe einer Pilgerin, waren die zerzausten Flügel einer Elster, die staubige Brust einer Ringeltaube. Geschöpfe, die so willkürlich und unbeständig durch ihr Leben zu ziehen schienen wie Addie selbst.
    Im März zeichnete und malte sie wieder wie eine Wilde. Und Cora und Lou hatten sich mit der Veränderung ihrer Freundin arrangiert, die seit ihrer Rückkehr aus England schwarze hautenge Hosen und flache Schuhe zu Wollpullovern trug und sich das Haar lang und glatt wachsen ließ. Statt sich mit ihrer Frisur und ihren Fingernägeln zu befassen und am Wochenende Kekse für ihren Freund zu backen, nahm Addie nun, sooft sie es sich leisten konnte, mit Lou zusammen den Zug nach New York City. Sie fingen im Metropolitan Museum oder im Museum of Modern Art an, aßen Sandwiches im Central Park, während Addie zeichnete und Lou mit Fremden plauderte, und betraten ehrfürchtig eine der Galerien auf der 57th Street. Dann fuhren sie, beseelt von dem Selbstvertrauen, das die Kunst ihnen immer einflößte, mit der U-Bahn nach Downtown, um in der Cedar Tavern oder in Max’s Kansas City Wein zu trinken, Zigaretten zu rauchen und in der Menge der Gäste nach berühmten Künstlern Ausschau zu halten.
    Einmal blieben sie, in der Hoffnung, beispielsweise de Kooning oder Robert Motherwell zu entdecken, länger als beabsichtigt, verpassten den letzten Bus nach Doylestown und liefen bis zum Morgengrauen

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