Die Luft, die uns traegt
Eins
Glaubt man John James Audubon, gab es im südöstlichen Pennsylvania einst eine Vogelart namens Cuvier-Goldhähnchen, Regulus cuvieri , oder auch, wie Audubon sie gern nannte, Cuvier-Zaunkönig. Und wenn man Addie und Tom Kavanagh glauben darf, könnte der mysteriöse Vogel wie durch ein Wunder beinahe zweihundert Jahre später auf einer Hügelkette in der Nähe ihres Hauses wieder aufgetaucht sein, einhundertzwanzig Kilometer nördlich von Audubons ursprünglicher Sichtung.
Audubon behauptete damals, er habe diese »hübsche und seltene Art« im Juni 1812 auf der Plantage seines Schwiegervaters Fatland Ford nordwestlich von Philadelphia entdeckt. Wie es seine Gewohnheit war, schoss er das Tier, um es zu zeichnen, wobei er anfänglich glaubte, es handelte sich um das weiter verbreitete Rubingoldhähnchen. »Seither habe ich weder ein weiteres Exemplar zu Gesicht bekommen noch herausfinden können, ob diese Spezies je von einem anderen Menschen beobachtet wurde«, schrieb er in seiner berühmten Abhandlung Die Vögel Amerikas .
Doch Audubon war nicht gerade bekannt für seine Ehrlichkeit. So behauptete er, der Sohn eines französischen Admirals und einer wunderschönen spanischen Kreolin von den
Inseln zu sein, doch in Wirklichkeit war sein Vater ein französischer Kaufmann, Sklavenhändler und Schiffskapitän und seine Mutter eine des Lesens und Schreibens unkundige französische Kammerzofe. Und sicherlich hatte sie auch praktische Gründe, diese Benennung eines Vogels (ob nun echt oder nicht) nach Baron Georges Cuvier, dem berühmten französischen Naturforscher und einem der frühesten Förderer Audubons.
Nicht zu vergessen der »Streich«, den Audubon einem Naturforscher namens Constantine Samuel Rafinesque spielte, als dieser im Sommer 1818 bei Audubon und seiner Frau Lucy in ihrem Haus in Kentucky weilte. Für seinen Gast beschrieb – und zeichnete – Audubon zehn Fantasiefische, die angeblich im Ohio River heimisch waren. Woraufhin Rafinesque Darstellungen dieser Tiere (darunter ein Wesen mit Namen »Diamant-Teufelshecht«, einen bis drei Meter lang, bis zu hundertachtzig Kilo schwer und bedeckt von kugelsicheren Schuppen) in mehrere Artikel und schließlich in ein Buch aufnahm.
In den knapp zweihundert Jahren, seit Audubon eigenen Angaben zufolge ein Cuvier-Goldhähnchen schoss, wurde nicht ein einziges Exemplar mehr gesichtet. Außer natürlich, man glaubt den Kavanaghs, dem Vogelmalerin-Ornithologen-Team, das 1969 den Umweltschutz- und Antikriegsklassiker Eine Prosodie der Vögel – eine eigenartige Mischung aus filigranen Bildtafeln und dichter metrischer Darstellung von Vogelgesängen – veröffentlichte. Genau genommen nahm nur Addie für sich in Anspruch, das Cuvier-Goldhähnchen gesehen zu haben, eines Tages bei Sonnenaufgang. Es war ein bewölkter Morgen im Mai 2001, und sie befand sich auf einer Routineexkursion auf dem Bergrücken oberhalb ihres kleinen Hauses am Nisky Creek, unweit von Burnham, Pennsylvania.
Obwohl Tom nicht dabei war, bestritt er die Behauptung seiner Frau nie. Doch so seltsam es auch scheinen mag, die Aufrichtigkeit eines ernsthaften Wissenschaftlers und Dozenten wie Tom Kavanagh infrage zu stellen, gibt es dennoch durchaus Gründe, sowohl an ihm als auch an Addie zu zweifeln.
Falls der Vogel, den Addie an jenem Morgen entdeckte, kein Cuvier-Goldhähnchen, sondern ein Rubingoldhähnchen war – ein Fehler, der weder zu Addie noch zu Tom passen würde –, dann gab es wohl Gründe für einen solch rätselhaften Irrtum. Addie hatte für jede ihrer absonderlichen Entscheidungen ihre Gründe. Und Tom ließ sich durch keine davon abbringen, sie von ganzem Herzen zu lieben.
Toms und Addies Tochter, Scarlet, hat Vögel ebenfalls schon immer geliebt, wenn auch nicht mit der nahezu fanatischen Leidenschaft ihrer Eltern. Aber immerhin genug, um seit Kindertagen immer mal wieder über sie zu schreiben. Jetzt allerdings interessiert sie sich weniger dafür, ob das Cuvier-Goldhähnchen tatsächlich plötzlich, wunderbarerweise, im südöstlichen Pennsylvania wieder aufgetaucht ist, als vielmehr für die Instruktionen, die ihre Mutter ihr und Tom vor zwei Wochen präsentiert hat – Addies Wunsch betreffend, was mit ihrem Leichnam geschehen soll: klare Anweisungen für eine frech illegale Bestattung. Es gibt keinen einfachen Weg, mit einer solchen Bitte umzugehen, soweit Scarlet das beurteilen kann. Und es ist schwer zu sagen, was Tom dazu meint.
Jetzt ist es Anfang Mai 2002,
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