Die Lutherverschwörung
Saal fünf von Frundsbergs Leuten stehen, die ihn kannten; sie trugen ihre Hakenbüchsen bei sich, sogenannte Arkebusen. Die Anschlagkolben standen auf dem Boden, und die Söldner stützten sich auf den langen Rohren ab; einer trug die Waffe an einem Gurt über der Schulter. Jost eilte zu dem Söldner, der ihm am nächsten stand. Ob seine Waffe geladen sei? Er schüttelte den Kopf. Auch der zweite verneinte.
»Meine ist geladen«, sagte derjenige, der die Arkebuse über der Schulter trug.
»Gib sie mir! Schnell!«
»Wozu?«
»Das erkläre ich später.«
Der Söldner zögerte. »Na gut«, sagte er schließlich, »weil du ein alter Freund von Georg bist.« Er reichte ihm die schwere Waffe. Jost rannte sofort los, kaum dass er sie in Händen hielt, gefolgt von Herbert. Die meisten Marktstände auf dem Domplatz waren mit Planen abgedeckt wegen des Regens; von vielen troff noch das Wasser. Jost nutzte die Planen als Sichtschutz und rannte eine enge Gasse zwischen den Ständen entlang. Zum Glück waren nach dem Platzregen nicht so viele Käufer unterwegs. Der Boden war rutschig und aufgeweicht.
Jost sah schon von weitem, dass Anna nicht beim Eingang stand, und eilte auf das Haus zu. Ob man ihn von oben sehen konnte? Egal, Jost erreichte den Eingang und stürmte ins Treppenhaus.
Nun war der Zeitpunkt gekommen: Wulf öffnete langsam den Fensterladen und schaute kurz nach draußen – niemand beachtete ihn. Er trat wieder zurück und sammelte ein letztes Mal seine Kräfte. Alles kam auf diesen einen Schuss an. Wie das Leben selbst: Nur ein Versuch! Was danach geschah, lag in den Händen der Jungfrau. Mit etwas Glück und seiner Kinderverkleidung würde ihm im Tumult die Flucht glücken.
Wulf kniete auf den Boden, nahm die Armbrust und legte sie auf eines der beiden Fässer, deren Sinn und Zweck ihm noch immer nicht klar war, aber das Fass hatte genau die richtige Höhe. Er stützte seine Ellbogen darauf ab und legte die Mittelsäule der Armbrust auf das Fensterbrett. Nun hob er den Kopf und schaute hinüber zum Dom. Wulf wusste, dass er in den wenigen Augenblicken vor dem Schuss verwundbar war, weil er in dieser Zeit sein Versteck aufgab. Man konnte ihn nun sehen, wenn man zum Turm hochschaute. Aber wer sollte hochschauen? Das Risiko war kalkulierbar, die Leute interessierten sich für das, was im Verhandlungssaal ablief. Noch immer stand Luther vor dem Tisch mit seinen Schriften, noch immer redete der Ankläger des Kaisers.
»Was die Doktoren theologisch erörtert haben«, fuhr der Ankläger fort, »darüber hat die Kirche endgültig entschieden, und in gläubigem Vertrauen zu ihr sind unsere Väter und Vorfahren gestorben. Was sie uns wie ein Erbe hinterlassen haben, darüber dürfen wir nach päpstlichem wie nach kaiserlichem Recht nicht disputieren. Dieses doppelte Recht hält harte Strafen bereit für jene Leute, deren Halsstarrigkeit es ihnen verbietet, sich der Kirche zu unterwerfen. Du bist also im Irrtum, Martinus, wenn du eine Disputation erwartest, wo du vielmehr glauben solltest.«
Im Saal war nicht einmal ein Räuspern zu hören, jeder wusste, was unter harten Strafen zu verstehen war. Luther stand noch immer reglos, der Ankläger fuhr fort: »Ich fordere dich deshalb auf, Martinus, einfach und unumwunden zu antworten, ob du bereit bist, deine Schriften zu widerrufen?«
Alle Augen richteten sich auf Luther. »Weil Eure geheiligte Majestät und Eure Herrlichkeiten es verlangen«, sagte er, »so will ich eine schlichte und jedem verständliche Antwort geben!«
Wulf kniff das linke Auge zusammen und presste die rechte Wange gegen die Armbrust. Er visierte zunächst das offene Fenster an. Etwas stimmte noch nicht, das betraf sowohl die Auflage der Armbrust als auch seine eigene Position. Wulf ging geduckt zurück in den Raum und holte leere Kornsäcke; einen legte er auf das Fensterbrett, die anderen auf den Deckel des Fasses, auf dem er seine Ellbogen abstützte. Ja, nun war es besser. Über Kimme und Korn visierte er Luther an, der vor dem Ankläger stand, ohne sich zu rühren. Die Entfernung war immens. Wieder dachte Wulf daran, dass er nur einen Versuch hatte.
Ich darf gar nicht in Betracht ziehen, dass ich ihn nicht treffe, wenn man anfängt zu zweifeln und unsicher wird, hat man verloren. Ich muss felsenfest davon überzeugt sein, dass ich es schaffe, und dann gelingt es auch. Aber so leicht war der Zweifel nicht zu zerstreuen, Wulf fühlte sich unwohl. Lag es daran, dass man ihn sehen konnte,
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