Die Macht der Angst (German Edition)
Killer, so knallhart wie er selbst oder schlimmer. Schlimmere gab es immer.
Nachdenklich sah Tony dem verlorenen, kaputten Jungen dabei zu, wie er sich über seinen Eimer beugte, dann erneuerte er die Entscheidung, die er jeden Abend traf: Der Junge war nicht in der Verfassung, die Leute, die ihm das angetan hatten, zur Rechenschaft zu ziehen. Sie würden ihn wie einen Käfer zertreten. Er war besser dran, solange er Teller spülte und Böden schrubbte. Tony schaute ihn unverwandt an, während er seine nächste Kippe qualmte. Er hasste dieses nagende Gefühl des Zweifels in seiner Magengrube.
Eamon McCloud. Wer war er für den Jungen? Tony fluchte leise in seinem schweren kalabrischen Akzent, dann schob er die Marken in seine Hosentasche.
Der Name darauf könnte das verkorkste Leben des Jungen vielleicht wieder auf Spur bringen.
Oder er könnte sein Freischein in den Tod sein.
1
Ich bin am Arsch
.
Unaufgeregt und wie in weiter Ferne zuckte der Gedanke durch Kevs Bewusstsein. Das Brausen eisigen Wassers toste in seinen Ohren. Der Strom würde ihn in wenigen Sekunden mit sich reißen. Es waren Sekunden, die sich nach dem hämmernden Puls in seinem Kopf bemaßen. Jedes Pochen war wie ein glühender Nadelstich, gleichzeitig lenkte nichts so sehr von einer Migräne ab, wie dem eigenen Tod ins Antlitz zu blicken.
Das Gesicht seines kleinen Engels schob sich vor sein geistiges Auge. Seine Traumgefährtin, sein Schutzgeist. Ihre seelenvollen Augen waren traurig und voller Angst.
Schon seit dem Aufstehen wusste er, dass dies
der
Tag sein würde. Kev hatte es an diesem Prickeln erkannt, so als würde jemand auf seinen Nacken starren. Allerdings war die Überraschung relativ gering, nachdem er den Tag für adrenalinintensive sportliche Aktivitäten reserviert hatte – seine einzige Freude in dieser Existenz, die sich sein Leben schimpfte. Eigentlich sollte man meinen, dass jeder vernunftbegabte Mensch, der einen Wink aus dem Jenseits erhalten hatte, dass der eigene Tod unmittelbar bevorstand, sich den Tag lieber mit Sitcom-Wiederholungen auf der Couch vertreiben würde. Oder eine Buchhandlung besuchen und sich in Abhandlungen über Wachsamkeit und freiwillige Einfachheit vertiefen. Wahlweise könnte man sich auch, eine Matcha Latte süffelnd, in einem Kino verstecken und sich eine Naturdokumentation reinziehen. Hauptsache, man blieb in Deckung.
Aber so tickte Kev nun mal nicht. Seine funktionstüchtigen, geistig gesunden Hirnzellen hatten sich zu einer Reise ins Weltall aufgemacht. Zusammen mit seinen Erinnerungen und seiner normalen und natürlichen Furcht vor dem Tod. Lebensgefahr? Immer her damit. Er müsste sowieso längst tot sein. Man brauchte sich nur sein Gesicht anzuschauen. Kinder rannten schreiend zu ihren Müttern, sobald sie die verunstaltete Seite sahen.
Die Kälte hatte den Schmerz abgestumpft. Kev fühlte die Hand nicht mehr, mit der er sich an dem Ast des toten Baums festklammerte. Genauso wenig, wie er die mehrfachen Knochenbrüche in seinem anderen Arm spürte. Das versehrte Glied trieb nutzlos auf dem Wasser, ein Spielball des reißenden Flusses, der nur wenige Meter entfernt in die Tiefe stürzte. Die gebrochenen Knochen bauschten den vom Blut rosarot verfärbten Nylonstoff seiner Jacke zeltartig auf. Allerdings bezweifelte Kev, dass er den Arm je wieder brauchen würde, sobald ihn die Strömung über die Kante des Wasserfalls katapultiert hätte.
Und wennschon. Er war bereits vor Jahren komplett zermalmt worden. Hatte von geborgter Zeit gelebt. Ein halbes Leben, auf halber geistiger Drehzahl. Ohne zu wissen, wer er war.
Fang gar nicht erst damit an. Halt einfach die Klappe
. Er ließ sich auf selbstmörderische Wagnisse wie dieses nur ein, damit der Adrenalinkick ihn davon abhielt, in Selbstmitleid zu zerfließen. Das allein war der Grund, warum er sich in Steilwände hängte, mit dem Drachen in gefährlichen Luftströmungen aufstieg und Wildwasserrafting über heimtückische Stromschnellen riskierte. Wenn er dem Tod ins Auge blickte, fühlte er sich energiegeladen, verankert im Hier und Jetzt. Beinahe lebendig.
Seit Tony ihn gerettet hatte, hatte er einen Mechanismus entwickelt, der seine emotionale Ebene massiv unterdrückte. Kev schaffte es zu funktionieren, aber mehr auch nicht. Was vermutlich auf das Hirntrauma zurückzuführen war, das seine Amnesie ausgelöst und ihm die Sprache genommen hatte – damals, in den schlechten alten Tagen.
Was immer es war, er hatte die Nase gestrichen
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