Die Macht des Lichts
Feld führte. Schon zuvor hatte es Fraktionskämpfe in der Burg gegeben; Zusammenstöße zwischen verschiedenen Ajahs, und einige davon hatten durchaus zu Blutvergießen geführt, so wie bei Siuans Absetzung. Die geheimen historischen Aufzeichnungen erwähnten solche Geschehnisse.
Aber noch nie zuvor hatte sich der Streit jenseits der Tore der Weißen Burg erstreckt. Noch nie zuvor hatten Aes Sedai Truppen über diese Brücken geführt. Das jetzt zu tun würde Egwenes Amtszeit als Amyrlin für alle Ewigkeit mit dieser Schmach verbinden. Was auch immer sie sonst erreichen würde, dieser Tag würde es mit Sicherheit überschatten.
Sie hatte gehofft, als Befreierin zu kommen und zu versöhnen. Stattdessen würde sie sich Krieg und Unterwerfung zuwenden. Wenn es nicht anders ging, würde sie den Befehl geben. Aber sie wollte bis zum letztmöglichen Augenblick damit warten. Und wenn es eben bedeutete, eine grimmige Stunde unter dem bewölkten Himmel zu warten, während die Pferde schnaubten, weil sie die Anspannung ihrer Reiter spürten, dann sollte es eben so sein.
Brynes Stunde verging. Egwene zögerte noch ein paar Minuten länger - solange sie es wagte. Die armen Soldaten auf der anderen Seite der Brücke erhielten keine Verstärkung. Sie starrten bloß entschlossen hinter ihrer kleinen Barrikade hervor.
Zögernd drehte sich Egwene um, um den Befehl zu geben. »Einen Moment.« Bryne beugte sich auf seinem Sattel vor. »Was ist das?«
Egwene wandte den Blick wieder der Brücke zu. Kaum erkennbar kam in der Ferne eine Prozession die Straße entlang. Hatte sie zu lange gewartet? Hatte die Weiße Burg Verstärkung geschickt? Würde ihr stures Zögern ihre Männer das Leben kosten?
Aber nein. Diese Gruppe bestand nicht aus Soldaten, sondern aus Frauen in Röcken. Aes Sedai!
Egwene hob die Hand und verhinderte jeden Angriff ihrer Soldaten. Die Prozession ritt auf direktem Weg zu der Barrikade der Burgwache. Einen Augenblick später begab sich eine Frau in einem grauen Kleid vor die Straßensperre; begleitet wurde sie nur von einem einzigen Behüter. Egwene kniff die Augen zusammen und versuchte, das Gesicht der Frau zu erkennen, und Bryne reichte ihr hastig sein Fernglas. Egwene nahm es dankbar entgegen, aber sie hatte die Frau bereits erkannt. Andaya Forae, eine der neuen Sitzenden des Saals, die man nach der Spaltung erwählt hatte. Graue Ajah. Das deutete die Bereitschaft zu Verhandlungen an.
Der Schein der Macht umgab die Frau, und Siuan zischte, was einige der Soldaten in der Nähe die Bögen heben ließ. Wieder hob Egwene die Hand. »Bryne«, sagte sie streng. »Es wird kein erster Schuss abgegeben, bevor ich den ausdrücklichen Befehl dazu gebe!«
»Zurück, Männer!«, brüllte Bryne. »Ich ziehe euch die Haut ab, wenn ihr auch nur einen Pfeil auf die Sehne legt!« Hastig nahmen die Männer die Bögen herunter.
Die Frau in der Ferne benutzte ein Gewebe, das Egwene nicht erkennen konnte, und sprach dann mit einer Stimme, die offensichtlich verstärkt wurde. »Wir möchten mit Egwene al’Vere sprechen«, sagte Andaya. »Ist sie anwesend?«
Egwene erschuf ihr eigenes Gewebe, um ihre Stimme zu verstärken. »Ich bin hier, Andaya. Sagt den anderen in Eurer Begleitung, sie sollen vortreten, damit ich sie sehen kann.«
Überraschenderweise gehorchten sie dem Befehl. Neun weitere Frauen traten nacheinander hervor, und Egwene musterte eine nach der anderen. »Zehn Sitzende«, sagte sie, gab Bryne sein Fernglas zurück und löste ihr Gewebe auf, damit sie sprechen konnte, ohne dass ihre Worte über die Distanz projiziert wurden. »Zwei von jeder Ajah mit Ausnahme der Blauen und der Roten.«
»Das ist vielversprechend.« Bryne rieb sich das Kinn.
»Nun, sie könnten gekommen sein, um meine Kapitulation entgegenzunehmen«, bemerkte Egwene trocken. »Also gut.« Sie verstärkte ihre Stimme wieder mit der Macht. »Was wünscht Ihr von mir?«
»Wir sind hergekommen«, sagte Andaya. Dann zögerte sie. »Wir sind hergekommen, um Euch darüber zu informieren, dass der Saal der Weißen Burg sich entschieden hat, Euch zum Amyrlin-Sitz zu erheben.«
Siuan keuchte ungläubig auf, und Bryne fluchte leise. Mehrere Soldaten murmelten etwas davon, dass das nur eine Falle sein konnte. Aber Egwene schloss bloß die Augen. Konnte sie zu hoffen wagen? Sie war von der Annahme ausgegangen, dass ihre ungewollte Rettung viel zu früh erfolgt war. Aber wenn sie tatsächlich eine ausreichende Grundlage geschaffen hatte, bevor Siuan
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