Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein dunkler Gesang

Ein dunkler Gesang

Titel: Ein dunkler Gesang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phil Rickman
Vom Netzwerk:
1 Auf dem kahlen Hügel
    Noch am übernächsten Tag lagen Teile des Autowracks herum: eine verzogene Tür auf der anderen Seite des Straßengrabens und im Gras Fetzen von Reifengummi, die aussahen wie abgeworfene Schlangenhaut.
    In der Nacht zuvor hatte es geregnet, und der Saum von Hochwürden S. D. Spicers Soutane war braun von feuchtem Schlamm. Was ein Stück blutverschmierter Ärmel sein mochte, hatte sich im Brombeergestrüpp verheddert, das sich wie Stacheldrahtrollen um die Hecke wand. Das geschändete Land wollte nicht loslassen. Es schien Merrily, als würde in der Luft immer noch der Zusammenstoß nachhallen.
    «Der andere Wagen war ein alter Land Rover Defender», sagte Spicer. «Muss gewesen sein, als würde man frontal gegen eine Felswand rasen.»
    Bodennebel lag wie zarter Musselin über den Hecken und der Böschung, und die Vormittagssonne blitzte in den Fenstern eines mit einem Turm geschmückten Hauses im Tal. Mit einem Blick in die andere Richtung der Straße stellte Merrily fest, dass es keine offensichtlichen toten Winkel und keine Bäume gab, die über die Fahrbahn hingen.
    «Der Junge ist im Krankenwagen gestorben.» Spicer nickte in Richtung der roten Autotür, die aussah wie zerknülltes Schokoladenpapier. «Die Feuerwehr hat beinahe eine Stunde gebraucht, um ihn aus dem Auto zu befreien. Zum Glück war er die ganze Zeit bewusstlos.»
    Merrily schüttelte langsam den Kopf, so wie man es eben machte, wenn es nichts zu sagen gab. Kein anderer Gewaltakt spielte sich so unvermittelt und brutal, so heftig und unaufhaltsam ab wie ein Frontalzusammenstoß. Unweigerlich musste sie an Jane und Eirion denken, die oft abends in Eirions kleinem Auto unterwegs waren. Nur eine Sekunde Unaufmerksamkeit, nur eine kleine Zärtlichkeit, und …
    «Er war Mitte zwanzig. Lincoln Cookman, aus Worcester. Das Mädchen … da mussten sie sich nicht beeilen, um sie aus dem Wagen zu holen. Sie hatte ihr Fenster heruntergekurbelt. War nicht angeschnallt. Ihr wurde bei dem Aufprall fast der Kopf abgerissen. Sonia Maloney aus Droitwich.»
    «Oh Gott.» Merrily trat einen Schritt zurück. «Wie alt war sie?»
    «Ungefähr neunzehn.» Spicers Londoner Aussprache war so ausdruckslos und flach wie eine Gummimatte. «Ein grauenvoller Anblick, kaum auszuhalten, aber wenigstens ging es schnell. Sie haben nicht gelitten. Abgesehen von Preston Devereaux, natürlich.»
    «Entschuldigung. Preston wer?»
    «Ein Bauer aus der Gegend und Pfarrgemeinderatsvorsitzender. Und, wie es der Zufall will, der Fahrer des Land Rovers. Ist spät von einer Hochzeitsfeier in der Verwandtschaft zurückgekommen.»
    «Oh, das ist ja furchtbar.»
    «Es hätte jeden von uns treffen können, Mrs. Watkins. Der Gemeinderat fordert schon seit letztem Herbst Radarfallen. Nicht, dass das etwas geändert hätte, bei dem Zustand, in dem diese Kids gewesen sein müssen. Sie fallen am Wochenende aus Worcester und solchen Städten ein. Sämtliche Autofenster offen, die Musik voll aufgedreht. Rasen mit hundert Sachen auf der falschen Straßenseite. Der arme Kerl durchlebt den Unfall immer wieder. Braucht ein bisschen Unterstützung … das ist vermutlich meine Aufgabe.»
    «Und, hm … was genau ist meine, Mr. Spicer?»
    Das war eine vernünftige Frage, doch er antwortete nicht. Gemeindepfarrer hatten oft Schwierigkeiten zu erklären, warum sie Hilfe beim Amt für spirituelle Grenzfragen suchten. Spicer war bei seinem Telefonanruf am Tag zuvor kurz angebunden und verschlossen gewesen.
Können Sie früh kommen? Vor acht Uhr morgens? In Zivil. Ich möchte hier keine große Schau abziehen.
    Na gut, jetzt war es zehn vor acht an einem Montagmorgen, und sie stand in diskreter Zivilkleidung – Jeans und Sweatshirt – mit ihm am Unfallort. Er dagegen präsentierte sich in vollem Staat: Soutane, Priesterkragen, das Brustkreuz an der Kette über der Soutane bestens zu sehen. Merrily fühlte sich hereingelegt. Aber warum sollte das seine Absicht sein? Sie hatte ihn noch nie gesehen, kannte nicht einmal seinen Vornamen. War nie zuvor in seinem Dorf gewesen, das an der Ostgrenze der Diözese lag, wo die Landschaft nach Worcester hin anstieg.
    «Also, die Sache ist die», sagte Spicer, «das ist zwar der Schlimmste, aber der Erste ist es nicht.»
    «Sie meinen, das hier ist ein Unfallschwerpunkt?»
    Manchmal, wenn an einem Straßenabschnitt viele Unfälle passierten, glaubte jemand, dort habe sich ein negatives Muster festgesetzt, und man wurde gebeten, an der Stelle einen

Weitere Kostenlose Bücher