Dunkle Visionen
PROLOG
M adison konnte die Stimmen aus dem Schlafzimmer hören, und sie machten ihr Angst.
Sie war zwölf, fast dreizehn, deshalb war sie nicht mehr so leicht zu erschrecken, immerhin hatte sie schon einiges mitbekommen von der Welt. Ihre schöne, flatterhafte Mutter hatte den ebenso flatterhaften und temperamentvollen Maler Roger Montgomery geheiratet, und seitdem waren oft Stimmen und Geräusche aus dem Elternschlafzimmer gedrungen.
Aber heute Nacht …
Irgendetwas war anders als sonst. Es war nicht der übliche hitzige Streit, der da ablief. Sie bezichtigten sich nicht beide wie sonst so oft gegenseitig der Untreue. Da war eine andere Stimme in dem Raum, eine heisere Stimme …
Eine drohende Stimme, die Madison einen kalten Schauer den Rücken hinunterjagte. Die Stimme war böse. Madison
wusste
es. Sie versuchte sich einzureden, dass sie sich etwas einbildete, dass es vielleicht doch die Stimme ihrer Mutter sei, immerhin war Lianie Adair eine berühmte Schauspielerin, die bekannt war für ihre fast unheimlich anmutende Fähigkeit, alle möglichen Stimmen und Akzente nachahmen zu können.
Aber es war nicht ihre Mutter, die da sprach. Madison war sich sicher.
Sie wusste, dass ihre Mutter im Bett keine Spielchen spielte oder irgendwelche Sexphantasien ausagierte. Irgendjemand, irgendetwas … Böses … war in dem Raum.
Sie fragte sich, ob Roger ebenfalls da war. Sie wusste es nicht. Sie hörte, wie die Stimme ihrer Mutter eine Oktave höher kletterte und wieder abfiel, ein leiser Unterton von Hysterie, ein Flehen schwang darin mit. Dann vernahm sie wieder das tonlose Flüstern. Die andere Stimme.
Die böse Stimme.
Die Stimme, bei deren Klang sie eine Gänsehaut bekam.
Ohne nachzudenken war sie aus ihrem Zimmer geschlüpft, und jetzt stand sie im Flur, ein vor Angst bibberndes Gespenst in ihrem übergroßen Baumwoll-T-Shirt. Sie tappte barfuß den Flur hinunter, begierig darauf, so schnell wie möglich zu ihrer Mutter zu kommen, gleichzeitig jedoch fürchtete sie sich schrecklich davor. Sie konnte sich den grässlichsten Horrorfilm anschauen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, und sie scheute selbst vor der waghalsigsten Wette nicht zurück. Schon als kleines Mädchen hatte sie der sehr realen Möglichkeit von Monstern in ihrem Schrank oder unter ihrem Bett getrotzt, indem sie sich immer wieder vorgesagt hatte, dass sie schlicht keine Angst hatte. Normalerweise fürchtete sie sich nicht im Dunkeln, das ließ sie einfach nicht zu.
Aber heute Nacht …
Oh Gott, hatte sie Angst. Es lag an der Stimme. Diese zischende, drohende Stimme, in der unüberhörbar das Böse mitschwang. Der Flur schien überhaupt kein Ende nehmen zu wollen, obwohl es sicher nur wenige Meter von ihrer Türschwelle bis zu der ihrer Mutter waren. Je mehr sie sich zwang, sich zu bewegen, desto mehr schien sie mit dem Fußboden zu verwachsen. Angst schnürte ihr die Kehle zu, deshalb konnte sie nicht schreien, obwohl sie es wollte, gleichzeitig wusste sie jedoch, dass sie nicht schreien sollte, um die Stimme nicht wissen zu lassen, dass sie unterwegs zum Elternschlafzimmer war.
Sie musste sich bewegen, um die Person zu sehen, die zu der Stimme gehörte.
Sie wollte rennen, aber sie konnte es nicht, weil irgendetwas Schreckliches geschehen könnte, wenn sie es täte.
Es sei denn, dieses Schreckliche geschah bereits, dann musste sie sehr tapfer sein. Sie musste das Böse aufhalten.
Das Böse lag in der Luft und drückte sie nieder. Es machte ihr das Atmen schwer, sodass jeder Schritt eine Qual war. Die Tür ihrer Mutter wirkte irgendwie seltsam verzerrt, als hätte das Böse dahinter sie anschwellen lassen, während durch die Türritzen merkwürdig blutrotes Licht zu fallen schien.
Sie musste einen klaren Kopf bewahren.
Bestimmt stritt sich ihre Mutter mit Roger.
Sie musste ruhig und vernünftig bleiben. Und ihre Mutter in sachlichem Ton daran erinnern, dass sie ein Recht auf ein paar Stunden ungestörten Schlaf hatte. Doch falls Lainie sich mit Roger zankte, war es natürlich durchaus auch möglich, dass sich die beiden bereits wieder versöhnt hatten, wenn sie beim Schlafzimmer angelangt war, und wenn sie dann reinstürmte, nun …
Sie wünschte sich, Lainie und Roger bei irgendeiner lasterhaften Sexakrobatik zu stören, aber sie wusste, dass das nicht der Fall sein würde.
Sie
wusste
es. Gott möge ihr helfen, aber sie
wusste
es.
Sie konnte spüren, was ihre Mutter verspürte, und Lainie verspürte Angst. Sie wurde bedroht,
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