Die Magd von Fairbourne Hall
ein, als sie die Intensität seines Blickes wahrnahm. Doch was sie in seinen Augen las, war weder Liebe noch Sehnsucht, sondern unverhohlene Verachtung. Seine schmalen Lippen verzogen sich zu einem höhnischen Ausdruck, seine lange Nase wirkte plötzlich adlerartig.
Lewisʼ Abfuhr hatte ihr wehgetan, aber Nathaniels Reaktion traf sie noch schmerzlicher, obwohl sie kein einziges Wort miteinander gewechselt hatten. Es war genauso, wie sie befürchtet hatte: Er hatte ihr nicht vergeben und konnte ihren Anblick nicht ertragen.
Sie drehte sich um, griff nach Emilys Hand und zog sie weg.
»Was für ein Rohling!«, keuchte Emily. »Bist du nicht froh, dass du ihn damals abgewiesen hast?«
Und ob Margaret froh war! Wie wütend er gerade ausgesehen hatte! Sie hatte sich früher nie vor ihm gefürchtet und hätte auch nie gedacht, dass er zu körperlicher Gewalt fähig war.
Sie blieb nur noch einmal rasch stehen, um ihrer Mutter ins Ohr zu flüstern, dass die Lathrops sie mit nach Hause nahmen, und eilte dann davon, bevor sie Einspruch erheben konnte. Doch Mrs Benton, abgelenkt von dem Kampf, nickte nur. Sterling stand ein paar Meter entfernt. Sein Blick ruhte auf vier Gästen in Paradeuniform, die die Upchurch-Brüder aus dem Saal bugsierten.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
2
Eine verheiratete Frau durfte kein Eigentum besitzen, keine Dokumente unterzeichnen, keine Verträge schließen und kein eigenes Einkommen haben.
Aus den Vorschriften der »Coverture«, einer Sonderregelung innerhalb der englischen Gesetzgebung, die für verheiratete Frauen galt
Auf der kurzen Fahrt zum Berkeley Square schwieg Margaret, während Emily ihren Eltern den Streit schilderte. In Gedanken ging sie die aufwühlenden Bilder und die unangenehmen Erinnerungen, die sie in ihr geweckt hatten, noch einmal durch. Sie musste sich eingestehen, dass ihr Vorhaben kläglich gescheitert war.
Die vornehme Kutsche hielt vor Sterling Bentons großzügigem Reihenhaus. Margaret dankte den Lathrops und verabschiedete sich von ihnen. Der Stallbursche half ihr beim Aussteigen. Sie ging die wenigen Schritte zur Vordertür. Als der livrierte Lakai ihr öffnete, entging ihr nicht, wie er die Augenbrauen hochzog, als er sah, dass sie allein zurückgekehrt war. Vielleicht befürchtete er, dass Sterling ihm Vorwürfe machen würde, weil er als Wachhund versagt hatte.
Margaret schritt an dem Bediensteten vorbei, ohne ihn auch nur eines Kopfnickens zu würdigen. Sie durchquerte die Diele. Als sie die Treppe hinaufging, hob sie ihren Rock, um nicht zu stolpern.
Im dritten Stock angekommen, ging sie auf Zehenspitzen zu Gilberts Schlafzimmer. Sie spähte durch die halb offene Tür und hatte plötzlich einen Kloß im Hals, als sie ihren Bruder im Bett liegen sah, die Hand unter der Wange, mit verwuscheltem Haar. Er sah aus wie der kleine Junge, der er für sie noch immer war. Sie schlich ins Zimmer, zog seine Bettdecke hoch und deckte ihn liebevoll zu. Margaret betete, dass Sterling Gilbert nicht, wie er angedroht hatte, aus Eton nehmen würde. Gil brauchte die Ausbildung, wenn er nach Oxford gehen und später in den kirchlichen Dienst eintreten wollte, wie sein Vater es sich immer gewünscht hatte.
Dann blieb sie vor dem Zimmer ihrer Schwester stehen. Caroline, die zurückhaltender war als ihr Bruder, hatte ihre Tür geschlossen. Margaret drückte sie vorsichtig auf und spähte hinein. Auch ihre Schwester lag in tiefem Schlaf. Caroline war sechzehn und würde nun auch bald auf Bälle gehen. Margaret beugte sich über das Bett und strich ihrer Schwester das karamellfarbene Haar aus der Stirn. Wie unschuldig sie aussah! Wie süß! Sie liebte ihre jüngere Schwester beinah so wie eine Mutter. So sehr, dass es wehtat.
Caroline schlug kurz die Augen auf, schloss sie aber gleich wieder. Schlaftrunken fragte sie: »Wie war der Ball?«
»Schön«, flüsterte Margaret. Sie wollte sie auf keinen Fall beunruhigen. »Träum schön, Herzblatt.« Herzblatt – so hatte ihr Vater sie immer genannt. Wie lange war es her, dass Margaret diesen Kosenamen gehört hatte?
Sie schlüpfte aus dem Zimmer ihrer Schwester und schlich in die gleich danebenliegenden Schlafzimmer von Sterling und ihrer Mutter. In Mamas Ankleidezimmer bemerkte sie überrascht, dass das Porträt von Stephen Macy nirgends zu sehen war. Bis vor Kurzem hatte es noch auf der Frisierkommode gestanden, da war sie ganz sicher. Margaret konnte verstehen, dass sie es nicht im Schlafzimmer aufstellte, wo Sterling es
Weitere Kostenlose Bücher