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Die Magd von Fairbourne Hall

Die Magd von Fairbourne Hall

Titel: Die Magd von Fairbourne Hall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Klassen
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sehen konnte. Aber hier in Mamas privatem Ankleidezimmer? Sie öffnete die oberste Schublade der Kommode und da lag es, mit der Vorderseite nach unten. Was für eine Treulosigkeit, dachte sie. Sie drehte das Bild um und betrachtete es. Dabei schüttelte sie verwundert den Kopf. Gil wurde ihrem Vater immer ähnlicher. »Wir haben dich nicht vergessen«, flüsterte sie dem gut aussehenden, jugendlichen Abbild zu. »Ich zumindest nicht.«
    Sie legte das Porträt auf seinen Platz zurück und ging hinüber in Sterlings Ankleidezimmer. Es war untadelig aufgeräumt, alles lag an seinem Platz. Sie hoffte nur, dass sein pingeliger Kammerdiener sie nicht hier erwischte.
    Auf Sterlings Frisiertisch sah sie eine Handvoll Münzen – Guineen, Crowns und Schillinge.
    Sollte sie es wagen?
    Sie hatte nicht einmal Geld für die Kutsche und erst recht nicht für die Unterkunft, die sie brauchen würde, falls die Situation eskalierte und so unerträglich wurde, dass sie fliehen musste. Sie hätte rechtzeitig etwas beiseitelegen sollen. Sie durfte nicht zulassen, dass sie Sterling auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war, bis sie in den Genuss ihres Erbes kam.
    Aber Margaret war die Tochter eines Vikars. Sie wusste, dass es falsch war zu stehlen. Aber konnte man das wirklich Stehlen nennen, fragte sie sich, wenn er ihr doch ihren Schmuck weggenommen hatte?
    Sie beschloss, es als Leihgabe zu betrachten. Sie würde es ihm zurückzahlen, sobald sie eigenes Geld hatte. Dann würden die paar Münzen eine Lappalie sein – aber jetzt? Jetzt gaben sie ihr vielleicht die Möglichkeit, zu fliehen und dem Schicksal zu entrinnen, das sie erwartete, wenn sie in der Falle saß. Sie nahm sich ein paar Münzen – nicht alle, das wäre zu offensichtlich gewesen. Wie kalt sie sich anfühlten, dachte sie, als sie sie in die Tasche ihrer Milchmädchenschürze steckte. Sie konnte ihr Gewicht den ganzen Weg bis in ihr Zimmer spüren.
    Als sie dort angekommen war, steckte sie die Münzen in ihren Pompadour. Kurz darauf kam Joan herein und half ihr, sich auszukleiden und das Nachthemd anzulegen. Als Margaret im Bett lag, hörte sie überrascht, wie unten die Vordertür geschlossen wurde.
    Sie waren früh nach Hause gekommen.
    Sie blies rasch die Kerze auf ihrem Nachttischchen aus. Joan sammelte noch ihre Kleider ein, ging aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
    Einen Augenblick später hörte sie ein leises Klopfen an ihrer Schlaf zimmertür. Ihr Magen verkrampfte sich. War das ihre Mutter oder Sterling?
    »Margaret?«, flüsterte eine Stimme.
    Marcus! Vor ihrer Schlafzimmertür, mitten in der Nacht? Margarets Herz pochte heftig. Ganz bestimmt würde er nicht wagen hereinzukommen!
    Unter dem Türrahmen drang Kerzenlicht herein. Auf dem Flur hörte sie leise Stimmen – die von Marcus und die einer Frau.
    Mit bebenden Nerven stand Margaret auf und schlich zur Tür.
    »Ja, Sir. Miss Macy ist zu Hause«, sagte Joan. »Sie ist schon schlafen gegangen.«
    Margaret kniete sich hin und spähte durchs Schlüsselloch.
    »Nun gut, Joan, aber es gibt keinen Grund, warum du nicht …« Marcusʼ Stimme klang plötzlich gedämpft. Als Margarets Augen sich an das flackernde Licht gewöhnt hatten, sah sie, wie Marcus sein Gesicht an Joans Hals presste, als flüstere er ihr etwas ins Ohr … oder als küsste er sie. Margaret wurde übel. Sie konnte Joans Gesicht nicht sehen, doch sie sah, wie Marcus die Hand des Dienstmädchens ergriff und sie hinter sich herzog.
    »Da sind Sie ja, Mr Benton.« Die leise Stimme von Murdoch, ihrem Butler, unterbrach die widerwärtige Szene. »Ihr Onkel lässt Sie bitten, ins Arbeitszimmer zu kommen.«
    Joan entzog Marcus ihre Hand. Er murmelte einen Fluch und verschwand.
    Margaret, die gar nicht gemerkt hatte, dass sie unwillkürlich die Luft angehalten hatte, atmete auf und legte sich wieder ins Bett. Doch noch lange, nachdem Marcusʼ Schritte verklungen waren und es wieder still im Haus war, gingen ihr beunruhigende Bilder durch den Kopf: Sterling und Marcus. Marcus und Joan. Miss Lyons und Lewis. Lewis und Nathaniel …
    Das Letzte, was sie sah, bevor der Schlaf sie überwältigte, war der verächtliche Blick, den Nathaniel Upchurch ihr im Ballsaal zugeworfen hatte. Er hatte sie getroffen wie ein Peitschenhieb.

    Als Margaret am nächsten Morgen das Frühstückszimmer betrat, stellte sie erschrocken fest, dass Sterling ganz allein am Tisch saß. Sie hatte ihm aus dem Weg gehen wollen. Er war ein Frühaufsteher; da­rum war sie

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